welche einen solchen regelmäßigen Fortgang in der Geschichte des Wissens verhindert haben.
Es giebt innerhalb der geschichtlichen Welt, die ja, dem Meere gleich, immer in Wellen bewegt ist, neben den dauernden Thatbeständen, welche, Theilinhalte der psychophysischen Wechsel- wirkung wie sie sind, als Religionen, Staaten, Künste dauernde Gebilde darstellen und als solche von den Einzelwissenschaften des Geistes erforscht werden, auch umfangreiche und in sich zusammen- hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die innerhalb der geschichtlichen Wechselwirkung auftreten, wachsen und sich ausbreiten, um dann bald wieder zu verschwinden. Revolu- tionen, Epochen, Bewegungen: das sind Namen für diese geschicht- lichen Phänomene, welche weit schwerer faßbar sind als die dauern- den Gestaltungen, welche die äußere Organisation der Gesellschaft oder die Systeme der Kultur hervorbringen. Schon Aristoteles hat den Revolutionen eine scharfsinnige Untersuchung gewidmet. Es sind aber besonders die geistigen Bewegungen, welche mit der Zeit einer sehr exakten Behandlung zugänglich werden müssen, da sie quantitative Bestimmungen gestatten. Von der Epoche der Geschichte ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg- lichkeit erlangt hat, sind wir durch Anwendung der statistischen Methode auf den Bestand der Bibliotheken im Stande, die In- tensität geistiger Bewegungen, die Vertheilung des Interesses in einem bestimmten Zeitpunkt der Gesellschaft zu messen; so werden wir in Stand gesetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen eines Kulturkreises ab, dem Grad von Spannung und Interesse in ihm, durch die ersten tastenden Versuche, bis zu einer genialen Schöpfung vorstellig zu machen. Die Darstellung der Ergebnisse einer solchen Statistik wird durch graphische Darstellung sehr an Anschaulichkeit gewinnen.
So wird die positive Wissenschaft auch die mehr vorüber- gehenden Zusammenhänge inmitten der allgemeinen Wechselwirkung der Individuen in der Gesellschaft der theoretischen Behandlung zu unterwerfen bemüht sein. Doch wir sind an der Grenze an- gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber- leitet -- von der aus wir zu fernen Küsten hinüberblicken.
Erſtes einleitendes Buch.
welche einen ſolchen regelmäßigen Fortgang in der Geſchichte des Wiſſens verhindert haben.
Es giebt innerhalb der geſchichtlichen Welt, die ja, dem Meere gleich, immer in Wellen bewegt iſt, neben den dauernden Thatbeſtänden, welche, Theilinhalte der pſychophyſiſchen Wechſel- wirkung wie ſie ſind, als Religionen, Staaten, Künſte dauernde Gebilde darſtellen und als ſolche von den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes erforſcht werden, auch umfangreiche und in ſich zuſammen- hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die innerhalb der geſchichtlichen Wechſelwirkung auftreten, wachſen und ſich ausbreiten, um dann bald wieder zu verſchwinden. Revolu- tionen, Epochen, Bewegungen: das ſind Namen für dieſe geſchicht- lichen Phänomene, welche weit ſchwerer faßbar ſind als die dauern- den Geſtaltungen, welche die äußere Organiſation der Geſellſchaft oder die Syſteme der Kultur hervorbringen. Schon Ariſtoteles hat den Revolutionen eine ſcharfſinnige Unterſuchung gewidmet. Es ſind aber beſonders die geiſtigen Bewegungen, welche mit der Zeit einer ſehr exakten Behandlung zugänglich werden müſſen, da ſie quantitative Beſtimmungen geſtatten. Von der Epoche der Geſchichte ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg- lichkeit erlangt hat, ſind wir durch Anwendung der ſtatiſtiſchen Methode auf den Beſtand der Bibliotheken im Stande, die In- tenſität geiſtiger Bewegungen, die Vertheilung des Intereſſes in einem beſtimmten Zeitpunkt der Geſellſchaft zu meſſen; ſo werden wir in Stand geſetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen eines Kulturkreiſes ab, dem Grad von Spannung und Intereſſe in ihm, durch die erſten taſtenden Verſuche, bis zu einer genialen Schöpfung vorſtellig zu machen. Die Darſtellung der Ergebniſſe einer ſolchen Statiſtik wird durch graphiſche Darſtellung ſehr an Anſchaulichkeit gewinnen.
So wird die poſitive Wiſſenſchaft auch die mehr vorüber- gehenden Zuſammenhänge inmitten der allgemeinen Wechſelwirkung der Individuen in der Geſellſchaft der theoretiſchen Behandlung zu unterwerfen bemüht ſein. Doch wir ſind an der Grenze an- gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber- leitet — von der aus wir zu fernen Küſten hinüberblicken.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0167"n="144"/><fwplace="top"type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/>
welche einen ſolchen regelmäßigen Fortgang in der Geſchichte des<lb/>
Wiſſens verhindert haben.</p><lb/><p>Es giebt innerhalb der geſchichtlichen Welt, die ja, dem<lb/>
Meere gleich, immer in Wellen bewegt iſt, neben den dauernden<lb/>
Thatbeſtänden, welche, Theilinhalte der pſychophyſiſchen Wechſel-<lb/>
wirkung wie ſie ſind, als Religionen, Staaten, Künſte dauernde<lb/>
Gebilde darſtellen und als ſolche von den Einzelwiſſenſchaften des<lb/>
Geiſtes erforſcht werden, auch umfangreiche und in ſich zuſammen-<lb/>
hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die<lb/>
innerhalb der geſchichtlichen Wechſelwirkung auftreten, wachſen und<lb/>ſich ausbreiten, um dann bald wieder zu verſchwinden. Revolu-<lb/>
tionen, Epochen, Bewegungen: das ſind Namen für dieſe geſchicht-<lb/>
lichen Phänomene, welche weit ſchwerer faßbar ſind als die dauern-<lb/>
den Geſtaltungen, welche die äußere Organiſation der Geſellſchaft<lb/>
oder die Syſteme der Kultur hervorbringen. Schon Ariſtoteles<lb/>
hat den Revolutionen eine ſcharfſinnige Unterſuchung gewidmet.<lb/>
Es ſind aber beſonders die geiſtigen Bewegungen, welche mit der<lb/>
Zeit einer ſehr exakten Behandlung zugänglich werden müſſen, da ſie<lb/>
quantitative Beſtimmungen geſtatten. Von der Epoche der Geſchichte<lb/>
ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg-<lb/>
lichkeit erlangt hat, ſind wir durch Anwendung der ſtatiſtiſchen<lb/>
Methode auf den Beſtand der Bibliotheken im Stande, die In-<lb/>
tenſität geiſtiger Bewegungen, die Vertheilung des Intereſſes in<lb/>
einem beſtimmten Zeitpunkt der Geſellſchaft zu meſſen; ſo werden<lb/>
wir in Stand geſetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen<lb/>
eines Kulturkreiſes ab, dem Grad von Spannung und Intereſſe in<lb/>
ihm, durch die erſten taſtenden Verſuche, bis zu einer genialen<lb/>
Schöpfung vorſtellig zu machen. Die Darſtellung der Ergebniſſe<lb/>
einer ſolchen Statiſtik wird durch graphiſche Darſtellung ſehr an<lb/>
Anſchaulichkeit gewinnen.</p><lb/><p>So wird die poſitive Wiſſenſchaft auch die mehr vorüber-<lb/>
gehenden Zuſammenhänge inmitten der allgemeinen Wechſelwirkung<lb/>
der Individuen in der Geſellſchaft der theoretiſchen Behandlung<lb/>
zu unterwerfen bemüht ſein. Doch wir ſind an der Grenze an-<lb/>
gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber-<lb/>
leitet — von der aus wir zu fernen Küſten hinüberblicken.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[144/0167]
Erſtes einleitendes Buch.
welche einen ſolchen regelmäßigen Fortgang in der Geſchichte des
Wiſſens verhindert haben.
Es giebt innerhalb der geſchichtlichen Welt, die ja, dem
Meere gleich, immer in Wellen bewegt iſt, neben den dauernden
Thatbeſtänden, welche, Theilinhalte der pſychophyſiſchen Wechſel-
wirkung wie ſie ſind, als Religionen, Staaten, Künſte dauernde
Gebilde darſtellen und als ſolche von den Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes erforſcht werden, auch umfangreiche und in ſich zuſammen-
hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die
innerhalb der geſchichtlichen Wechſelwirkung auftreten, wachſen und
ſich ausbreiten, um dann bald wieder zu verſchwinden. Revolu-
tionen, Epochen, Bewegungen: das ſind Namen für dieſe geſchicht-
lichen Phänomene, welche weit ſchwerer faßbar ſind als die dauern-
den Geſtaltungen, welche die äußere Organiſation der Geſellſchaft
oder die Syſteme der Kultur hervorbringen. Schon Ariſtoteles
hat den Revolutionen eine ſcharfſinnige Unterſuchung gewidmet.
Es ſind aber beſonders die geiſtigen Bewegungen, welche mit der
Zeit einer ſehr exakten Behandlung zugänglich werden müſſen, da ſie
quantitative Beſtimmungen geſtatten. Von der Epoche der Geſchichte
ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg-
lichkeit erlangt hat, ſind wir durch Anwendung der ſtatiſtiſchen
Methode auf den Beſtand der Bibliotheken im Stande, die In-
tenſität geiſtiger Bewegungen, die Vertheilung des Intereſſes in
einem beſtimmten Zeitpunkt der Geſellſchaft zu meſſen; ſo werden
wir in Stand geſetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen
eines Kulturkreiſes ab, dem Grad von Spannung und Intereſſe in
ihm, durch die erſten taſtenden Verſuche, bis zu einer genialen
Schöpfung vorſtellig zu machen. Die Darſtellung der Ergebniſſe
einer ſolchen Statiſtik wird durch graphiſche Darſtellung ſehr an
Anſchaulichkeit gewinnen.
So wird die poſitive Wiſſenſchaft auch die mehr vorüber-
gehenden Zuſammenhänge inmitten der allgemeinen Wechſelwirkung
der Individuen in der Geſellſchaft der theoretiſchen Behandlung
zu unterwerfen bemüht ſein. Doch wir ſind an der Grenze an-
gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber-
leitet — von der aus wir zu fernen Küſten hinüberblicken.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/167>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.