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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
thümern Comte's, so wirken doch die feineren in ihm fort. Aus der
Unterordnung der geschichtlichen Welt unter das System der Natur-
erkenntniß war im Geiste der französischen Philosophie des
18. Jahrhunderts die Sociologie Comte's entstanden; die Unter-
ordnung der Methode des Studiums geistiger Thatsachen unter
die Methoden der Naturwissenschaft hat wenigstens Stuart Mill
festgehalten und vertheidigt.

Die Auffassung Comte's betrachtet das Studium des mensch-
lichen Geistes als abhängig von der Wissenschaft der Biologie,
das was von Gleichförmigkeiten in der Folge geistiger Zustände
wahrgenommen werden kann, als den Effekt der Gleichförmigkeiten
in den Zuständen des Körpers, und so leugnet sie, daß Gesetz-
mäßigkeit in psychischen Zuständen für sich studirt werden könne.
Diesem logischen Verhältniß der Abhängigkeit unter den Wissen-
schaften entspricht dann nach ihm die historische Ordnung in der
Abfolge, durch welche den Wissenschaften der Gesellschaft ihr
historischer Ort bestimmt ist. Da die Sociologie die Wahrheiten
aller Naturwissenschaften zu ihrer Voraussetzung hat, gelangt sie
erst nach ihnen allen in das Stadium der Reife d. h. zur Fest-
stellung der Sätze, welche die gefundenen Einzelwahrheiten zu einem
wissenschaftlichen Ganzen verknüpfen. Die Chemie trat in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit Lavoisier in dieses
Stadium; die Physiologie erst im Beginn unsres Jahrhunderts
mit der Gewebelehre von Bichat: so schien es Comte, daß die
Constituirung der gesellschaftlichen Wissenschaften als der höchsten
Classe wissenschaftlicher Arbeiten ihm selber zufalle 1). -- Allerdings
erkennt er an (trotz seiner Neigung zu einförmiger Reglementirung
der Wissenschaft), daß zwischen der Sociologie und den ihr vorauf-
gehenden Wissenschaften, insbesondere der Biologie, welche auch
unsere geringe Kenntniß psychischer Zustände in sich faßt, ein anderes
Verhältniß bestehe, als dasjenige, das zwischen irgend einer der
früheren Wissenschaften und den sie bedingenden Wahrheiten sich
findet; das Verhältniß der Deduktion und Induktion ist an diesem

1) Dieser Zusammenhang ausdrücklich als entscheidend für die Ent-
wicklung der Sociologie anerkannt: philosophie positive 4, 225.

Erſtes einleitendes Buch.
thümern Comte’s, ſo wirken doch die feineren in ihm fort. Aus der
Unterordnung der geſchichtlichen Welt unter das Syſtem der Natur-
erkenntniß war im Geiſte der franzöſiſchen Philoſophie des
18. Jahrhunderts die Sociologie Comte’s entſtanden; die Unter-
ordnung der Methode des Studiums geiſtiger Thatſachen unter
die Methoden der Naturwiſſenſchaft hat wenigſtens Stuart Mill
feſtgehalten und vertheidigt.

Die Auffaſſung Comte’s betrachtet das Studium des menſch-
lichen Geiſtes als abhängig von der Wiſſenſchaft der Biologie,
das was von Gleichförmigkeiten in der Folge geiſtiger Zuſtände
wahrgenommen werden kann, als den Effekt der Gleichförmigkeiten
in den Zuſtänden des Körpers, und ſo leugnet ſie, daß Geſetz-
mäßigkeit in pſychiſchen Zuſtänden für ſich ſtudirt werden könne.
Dieſem logiſchen Verhältniß der Abhängigkeit unter den Wiſſen-
ſchaften entſpricht dann nach ihm die hiſtoriſche Ordnung in der
Abfolge, durch welche den Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ihr
hiſtoriſcher Ort beſtimmt iſt. Da die Sociologie die Wahrheiten
aller Naturwiſſenſchaften zu ihrer Vorausſetzung hat, gelangt ſie
erſt nach ihnen allen in das Stadium der Reife d. h. zur Feſt-
ſtellung der Sätze, welche die gefundenen Einzelwahrheiten zu einem
wiſſenſchaftlichen Ganzen verknüpfen. Die Chemie trat in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit Lavoiſier in dieſes
Stadium; die Phyſiologie erſt im Beginn unſres Jahrhunderts
mit der Gewebelehre von Bichat: ſo ſchien es Comte, daß die
Conſtituirung der geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften als der höchſten
Claſſe wiſſenſchaftlicher Arbeiten ihm ſelber zufalle 1). — Allerdings
erkennt er an (trotz ſeiner Neigung zu einförmiger Reglementirung
der Wiſſenſchaft), daß zwiſchen der Sociologie und den ihr vorauf-
gehenden Wiſſenſchaften, insbeſondere der Biologie, welche auch
unſere geringe Kenntniß pſychiſcher Zuſtände in ſich faßt, ein anderes
Verhältniß beſtehe, als dasjenige, das zwiſchen irgend einer der
früheren Wiſſenſchaften und den ſie bedingenden Wahrheiten ſich
findet; das Verhältniß der Deduktion und Induktion iſt an dieſem

1) Dieſer Zuſammenhang ausdrücklich als entſcheidend für die Ent-
wicklung der Sociologie anerkannt: philosophie positive 4, 225.
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[132/0155] Erſtes einleitendes Buch. thümern Comte’s, ſo wirken doch die feineren in ihm fort. Aus der Unterordnung der geſchichtlichen Welt unter das Syſtem der Natur- erkenntniß war im Geiſte der franzöſiſchen Philoſophie des 18. Jahrhunderts die Sociologie Comte’s entſtanden; die Unter- ordnung der Methode des Studiums geiſtiger Thatſachen unter die Methoden der Naturwiſſenſchaft hat wenigſtens Stuart Mill feſtgehalten und vertheidigt. Die Auffaſſung Comte’s betrachtet das Studium des menſch- lichen Geiſtes als abhängig von der Wiſſenſchaft der Biologie, das was von Gleichförmigkeiten in der Folge geiſtiger Zuſtände wahrgenommen werden kann, als den Effekt der Gleichförmigkeiten in den Zuſtänden des Körpers, und ſo leugnet ſie, daß Geſetz- mäßigkeit in pſychiſchen Zuſtänden für ſich ſtudirt werden könne. Dieſem logiſchen Verhältniß der Abhängigkeit unter den Wiſſen- ſchaften entſpricht dann nach ihm die hiſtoriſche Ordnung in der Abfolge, durch welche den Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ihr hiſtoriſcher Ort beſtimmt iſt. Da die Sociologie die Wahrheiten aller Naturwiſſenſchaften zu ihrer Vorausſetzung hat, gelangt ſie erſt nach ihnen allen in das Stadium der Reife d. h. zur Feſt- ſtellung der Sätze, welche die gefundenen Einzelwahrheiten zu einem wiſſenſchaftlichen Ganzen verknüpfen. Die Chemie trat in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit Lavoiſier in dieſes Stadium; die Phyſiologie erſt im Beginn unſres Jahrhunderts mit der Gewebelehre von Bichat: ſo ſchien es Comte, daß die Conſtituirung der geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften als der höchſten Claſſe wiſſenſchaftlicher Arbeiten ihm ſelber zufalle 1). — Allerdings erkennt er an (trotz ſeiner Neigung zu einförmiger Reglementirung der Wiſſenſchaft), daß zwiſchen der Sociologie und den ihr vorauf- gehenden Wiſſenſchaften, insbeſondere der Biologie, welche auch unſere geringe Kenntniß pſychiſcher Zuſtände in ſich faßt, ein anderes Verhältniß beſtehe, als dasjenige, das zwiſchen irgend einer der früheren Wiſſenſchaften und den ſie bedingenden Wahrheiten ſich findet; das Verhältniß der Deduktion und Induktion iſt an dieſem 1) Dieſer Zuſammenhang ausdrücklich als entſcheidend für die Ent- wicklung der Sociologie anerkannt: philosophie positive 4, 225.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/155>, abgerufen am 22.11.2024.