Ihre Unfähigkeit den Werth des geschichtlichen Verlaufs zu bestimmen.
der Geschichte, anstatt sich der Methoden der geschichtlichen Ana- lysis und der Selbstbesinnung zu bedienen (welche ihrer Natur nach ebenfalls analytisch ist), verbleibt in Allgemeinvorstellungen, welche entweder den Totaleindruck des geschichtlichen Weltlaufs in einer Abbreviatur wie eine Wesenheit hinstellen, oder dieses zu- sammengezogene Bild von einem allgemeinen metaphysischen Prin- zip aus entwerfen.
Mit so einfacher Deutlichkeit als von keinem anderen Bestandtheil der Metaphysik kann nun von dieser Philosophie der Geschichte ge- zeigt werden, daß in dem religiösen Erlebniß ihre Wurzeln liegen, und daß sie, von diesem Zusammenhang losgelöst, vertrocknet und verwest. Der Gedanke eines einheitlichen Plans der Menschenge- schichte, einer Erziehungsidee Gottes in ihr ist von der Theologie geschaffen worden. Ihr waren in Beginn und Ende aller Ge- schichte feste Punkte für eine solche Construktion gegeben: so ent- stand eine wirklich auflösbare Aufgabe, zwischen Sündenfall und letztem Gericht die verbindenden Fäden durch den geschichtlichen Weltlauf zu ziehen. -- In der mächtigen Schrift de civitate dei hat Augustinus aus der metaphysischen Welt den Geschichtsver- lauf auf dieser Erde entspringen lassen und ihn dann wieder in diese metaphysische Welt aufgelöst. Denn nach ihm hebt schon in den Regionen der Geisterwelt der Kampf zwischen dem himmlischen und dem irdischen Staate an; Dämonen treten den Engeln gegen- über; Kain als der civis hujus seculi dem Abel als dem pere- grinus in seculo; die Weltmonarchie Babylon, und Rom, welches es in der Weltherrschaft ablöst, das zweite Babylon treten dem Gottes- staat gegenüber, der im jüdischen Volke sich entwickelt, im Erscheinen Christi den Mittelpunkt seiner Geschichte hat, und seitdem als eine Art von metaphysischer Wesenheit, ein mystischer Körper, auf dieser Erde sich entwickelt. Bis dann das Ringen der Dämonen und der sie anbetenden irdischen civitas mit dem Gottesstaate auf dieser Erde im Weltgericht endet und Alles in die metaphysische Welt wiederum zurückkehrt. -- Diese Philosophie der Geschichte bildet den Mittelpunkt der mittelalterlichen Metaphysik des Geistes. Sie empfing durch die Theorie von den geistigen Substanzen, welche
Ihre Unfähigkeit den Werth des geſchichtlichen Verlaufs zu beſtimmen.
der Geſchichte, anſtatt ſich der Methoden der geſchichtlichen Ana- lyſis und der Selbſtbeſinnung zu bedienen (welche ihrer Natur nach ebenfalls analytiſch iſt), verbleibt in Allgemeinvorſtellungen, welche entweder den Totaleindruck des geſchichtlichen Weltlaufs in einer Abbreviatur wie eine Weſenheit hinſtellen, oder dieſes zu- ſammengezogene Bild von einem allgemeinen metaphyſiſchen Prin- zip aus entwerfen.
Mit ſo einfacher Deutlichkeit als von keinem anderen Beſtandtheil der Metaphyſik kann nun von dieſer Philoſophie der Geſchichte ge- zeigt werden, daß in dem religiöſen Erlebniß ihre Wurzeln liegen, und daß ſie, von dieſem Zuſammenhang losgelöſt, vertrocknet und verweſt. Der Gedanke eines einheitlichen Plans der Menſchenge- ſchichte, einer Erziehungsidee Gottes in ihr iſt von der Theologie geſchaffen worden. Ihr waren in Beginn und Ende aller Ge- ſchichte feſte Punkte für eine ſolche Conſtruktion gegeben: ſo ent- ſtand eine wirklich auflösbare Aufgabe, zwiſchen Sündenfall und letztem Gericht die verbindenden Fäden durch den geſchichtlichen Weltlauf zu ziehen. — In der mächtigen Schrift de civitate dei hat Auguſtinus aus der metaphyſiſchen Welt den Geſchichtsver- lauf auf dieſer Erde entſpringen laſſen und ihn dann wieder in dieſe metaphyſiſche Welt aufgelöſt. Denn nach ihm hebt ſchon in den Regionen der Geiſterwelt der Kampf zwiſchen dem himmliſchen und dem irdiſchen Staate an; Dämonen treten den Engeln gegen- über; Kain als der civis hujus seculi dem Abel als dem pere- grinus in seculo; die Weltmonarchie Babylon, und Rom, welches es in der Weltherrſchaft ablöſt, das zweite Babylon treten dem Gottes- ſtaat gegenüber, der im jüdiſchen Volke ſich entwickelt, im Erſcheinen Chriſti den Mittelpunkt ſeiner Geſchichte hat, und ſeitdem als eine Art von metaphyſiſcher Weſenheit, ein myſtiſcher Körper, auf dieſer Erde ſich entwickelt. Bis dann das Ringen der Dämonen und der ſie anbetenden irdiſchen civitas mit dem Gottesſtaate auf dieſer Erde im Weltgericht endet und Alles in die metaphyſiſche Welt wiederum zurückkehrt. — Dieſe Philoſophie der Geſchichte bildet den Mittelpunkt der mittelalterlichen Metaphyſik des Geiſtes. Sie empfing durch die Theorie von den geiſtigen Subſtanzen, welche
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Ihre Unfähigkeit den Werth des geſchichtlichen Verlaufs zu beſtimmen.
der Geſchichte, anſtatt ſich der Methoden der geſchichtlichen Ana-
lyſis und der Selbſtbeſinnung zu bedienen (welche ihrer Natur
nach ebenfalls analytiſch iſt), verbleibt in Allgemeinvorſtellungen,
welche entweder den Totaleindruck des geſchichtlichen Weltlaufs
in einer Abbreviatur wie eine Weſenheit hinſtellen, oder dieſes zu-
ſammengezogene Bild von einem allgemeinen metaphyſiſchen Prin-
zip aus entwerfen.
Mit ſo einfacher Deutlichkeit als von keinem anderen Beſtandtheil
der Metaphyſik kann nun von dieſer Philoſophie der Geſchichte ge-
zeigt werden, daß in dem religiöſen Erlebniß ihre Wurzeln liegen,
und daß ſie, von dieſem Zuſammenhang losgelöſt, vertrocknet und
verweſt. Der Gedanke eines einheitlichen Plans der Menſchenge-
ſchichte, einer Erziehungsidee Gottes in ihr iſt von der Theologie
geſchaffen worden. Ihr waren in Beginn und Ende aller Ge-
ſchichte feſte Punkte für eine ſolche Conſtruktion gegeben: ſo ent-
ſtand eine wirklich auflösbare Aufgabe, zwiſchen Sündenfall und
letztem Gericht die verbindenden Fäden durch den geſchichtlichen
Weltlauf zu ziehen. — In der mächtigen Schrift de civitate dei
hat Auguſtinus aus der metaphyſiſchen Welt den Geſchichtsver-
lauf auf dieſer Erde entſpringen laſſen und ihn dann wieder in
dieſe metaphyſiſche Welt aufgelöſt. Denn nach ihm hebt ſchon in
den Regionen der Geiſterwelt der Kampf zwiſchen dem himmliſchen
und dem irdiſchen Staate an; Dämonen treten den Engeln gegen-
über; Kain als der civis hujus seculi dem Abel als dem pere-
grinus in seculo; die Weltmonarchie Babylon, und Rom, welches es
in der Weltherrſchaft ablöſt, das zweite Babylon treten dem Gottes-
ſtaat gegenüber, der im jüdiſchen Volke ſich entwickelt, im Erſcheinen
Chriſti den Mittelpunkt ſeiner Geſchichte hat, und ſeitdem als eine
Art von metaphyſiſcher Weſenheit, ein myſtiſcher Körper, auf dieſer
Erde ſich entwickelt. Bis dann das Ringen der Dämonen und
der ſie anbetenden irdiſchen civitas mit dem Gottesſtaate auf
dieſer Erde im Weltgericht endet und Alles in die metaphyſiſche
Welt wiederum zurückkehrt. — Dieſe Philoſophie der Geſchichte bildet
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/146>, abgerufen am 23.11.2024.
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