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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
das Bildungsgesetz dieses Zusammenhangs enthalten ist. Irgend
eine wenn auch noch so schwankende und verworrene Allgemein-
vorstellung der geschichtlichen Wirklichkeit entsteht in Jedem, der
sich mit ihr beschäftigt hat und nun den Zusammenhang dieser
Wirklichkeit in einem geistigen Bilde vereinigt. Solche Abstrak-
tionen gehen auf allen Gebieten der Arbeit der Analysis voran.
Eine Wesenheit dieser Art war die geheimnißvolle vollkommene
Kreisbewegung, welche die alte Astronomie zu Grunde legte, sowie die
Lebenskraft, in welcher die Biologie vergangener Tage die Ursache
der Haupteigenschaften des organischen Lebens ausdrückte. Und
jede Formel, welche Hegel, Schleiermacher oder Comte aufgestellt
haben, das Gesetz der Geschichte auszudrücken, gehört diesem natür-
lichen Denken an, das überall der Analysis vorausgeht und eben --
Metaphysik ist. Diese anspruchsvollen Allgemeinbegriffe der Phi-
losophie der Geschichte sind nichts als die notiones universales,
welche Spinoza so meisterhaft in ihrem natürlichen Ursprung und
ihrer verhängnißvollen Wirkung auf das wissenschaftliche Denken
geschildert hat 1). -- Natürlich heben diese Abstraktionen, welche
den Verlauf der Geschichte ausdrücken, aus diesem, der mit dem
Bewußtsein unermeßlichen Reichthums die Seele bewegt, stets nur
Eine Seite heraus, und so sondert jede Philosophie eine etwas
andere Abstraktion aus diesem Gewaltigen, Wirklichen aus 2).
Wollte man aus des Aristoteles Stufenfolge von Naturkräften
bis zum Menschen ein Prinzip der Philosophie der Geschichte ab-
leiten, so würde es von dem Comte's in Rücksicht seines eigentlichen
Gehalts sich etwa so unterscheiden, wie der Blick auf dieselbe Stadt
von verschiedenen Höhen aus, ebenso dieses von der Humanität
Herders 3), dem Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur

1) Scholion zu prop. 40 des zweiten Buchs der Ethik, sowie de in-
tellectus emendatione.
2) Ex gr. qui saepius cum admiratione hominum staturam con-
templati sunt, sub nomine hominis intelligunt animal erectae staturae;
qui vero aliud assueti sunt contemplari, aliam hominum communem
imaginem formabunt etc.
3) Vgl. das vierte und fünfte Buch der Ideen, an welches dann das
fünfzehnte anknüpft, sowie den von Joh. Müller mitgetheilten Entwurf des
letzten Bandes gegen den Schluß.

Erſtes einleitendes Buch.
das Bildungsgeſetz dieſes Zuſammenhangs enthalten iſt. Irgend
eine wenn auch noch ſo ſchwankende und verworrene Allgemein-
vorſtellung der geſchichtlichen Wirklichkeit entſteht in Jedem, der
ſich mit ihr beſchäftigt hat und nun den Zuſammenhang dieſer
Wirklichkeit in einem geiſtigen Bilde vereinigt. Solche Abſtrak-
tionen gehen auf allen Gebieten der Arbeit der Analyſis voran.
Eine Weſenheit dieſer Art war die geheimnißvolle vollkommene
Kreisbewegung, welche die alte Aſtronomie zu Grunde legte, ſowie die
Lebenskraft, in welcher die Biologie vergangener Tage die Urſache
der Haupteigenſchaften des organiſchen Lebens ausdrückte. Und
jede Formel, welche Hegel, Schleiermacher oder Comte aufgeſtellt
haben, das Geſetz der Geſchichte auszudrücken, gehört dieſem natür-
lichen Denken an, das überall der Analyſis vorausgeht und eben —
Metaphyſik iſt. Dieſe anſpruchsvollen Allgemeinbegriffe der Phi-
loſophie der Geſchichte ſind nichts als die notiones universales,
welche Spinoza ſo meiſterhaft in ihrem natürlichen Urſprung und
ihrer verhängnißvollen Wirkung auf das wiſſenſchaftliche Denken
geſchildert hat 1). — Natürlich heben dieſe Abſtraktionen, welche
den Verlauf der Geſchichte ausdrücken, aus dieſem, der mit dem
Bewußtſein unermeßlichen Reichthums die Seele bewegt, ſtets nur
Eine Seite heraus, und ſo ſondert jede Philoſophie eine etwas
andere Abſtraktion aus dieſem Gewaltigen, Wirklichen aus 2).
Wollte man aus des Ariſtoteles Stufenfolge von Naturkräften
bis zum Menſchen ein Prinzip der Philoſophie der Geſchichte ab-
leiten, ſo würde es von dem Comte’s in Rückſicht ſeines eigentlichen
Gehalts ſich etwa ſo unterſcheiden, wie der Blick auf dieſelbe Stadt
von verſchiedenen Höhen aus, ebenſo dieſes von der Humanität
Herders 3), dem Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur

1) Scholion zu prop. 40 des zweiten Buchs der Ethik, ſowie de in-
tellectus emendatione.
2) Ex gr. qui saepius cum admiratione hominum staturam con-
templati sunt, sub nomine hominis intelligunt animal erectae staturae;
qui vero aliud assueti sunt contemplari, aliam hominum communem
imaginem formabunt etc.
3) Vgl. das vierte und fünfte Buch der Ideen, an welches dann das
fünfzehnte anknüpft, ſowie den von Joh. Müller mitgetheilten Entwurf des
letzten Bandes gegen den Schluß.
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[120/0143] Erſtes einleitendes Buch. das Bildungsgeſetz dieſes Zuſammenhangs enthalten iſt. Irgend eine wenn auch noch ſo ſchwankende und verworrene Allgemein- vorſtellung der geſchichtlichen Wirklichkeit entſteht in Jedem, der ſich mit ihr beſchäftigt hat und nun den Zuſammenhang dieſer Wirklichkeit in einem geiſtigen Bilde vereinigt. Solche Abſtrak- tionen gehen auf allen Gebieten der Arbeit der Analyſis voran. Eine Weſenheit dieſer Art war die geheimnißvolle vollkommene Kreisbewegung, welche die alte Aſtronomie zu Grunde legte, ſowie die Lebenskraft, in welcher die Biologie vergangener Tage die Urſache der Haupteigenſchaften des organiſchen Lebens ausdrückte. Und jede Formel, welche Hegel, Schleiermacher oder Comte aufgeſtellt haben, das Geſetz der Geſchichte auszudrücken, gehört dieſem natür- lichen Denken an, das überall der Analyſis vorausgeht und eben — Metaphyſik iſt. Dieſe anſpruchsvollen Allgemeinbegriffe der Phi- loſophie der Geſchichte ſind nichts als die notiones universales, welche Spinoza ſo meiſterhaft in ihrem natürlichen Urſprung und ihrer verhängnißvollen Wirkung auf das wiſſenſchaftliche Denken geſchildert hat 1). — Natürlich heben dieſe Abſtraktionen, welche den Verlauf der Geſchichte ausdrücken, aus dieſem, der mit dem Bewußtſein unermeßlichen Reichthums die Seele bewegt, ſtets nur Eine Seite heraus, und ſo ſondert jede Philoſophie eine etwas andere Abſtraktion aus dieſem Gewaltigen, Wirklichen aus 2). Wollte man aus des Ariſtoteles Stufenfolge von Naturkräften bis zum Menſchen ein Prinzip der Philoſophie der Geſchichte ab- leiten, ſo würde es von dem Comte’s in Rückſicht ſeines eigentlichen Gehalts ſich etwa ſo unterſcheiden, wie der Blick auf dieſelbe Stadt von verſchiedenen Höhen aus, ebenſo dieſes von der Humanität Herders 3), dem Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur 1) Scholion zu prop. 40 des zweiten Buchs der Ethik, ſowie de in- tellectus emendatione. 2) Ex gr. qui saepius cum admiratione hominum staturam con- templati sunt, sub nomine hominis intelligunt animal erectae staturae; qui vero aliud assueti sunt contemplari, aliam hominum communem imaginem formabunt etc. 3) Vgl. das vierte und fünfte Buch der Ideen, an welches dann das fünfzehnte anknüpft, ſowie den von Joh. Müller mitgetheilten Entwurf des letzten Bandes gegen den Schluß.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/143>, abgerufen am 23.11.2024.