lichkeit selber, als ein lebendiges Ganze, möchten wir erkennen. Und so werden wir unaufhaltsam dem allgemeinsten und letzten Problem der Geisteswissenschaften entgegengetrieben: giebt es eine Erkennt- niß dieses Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit?
Die wissenschaftliche Bearbeitung der Thatsachen, welche irgend eine der Einzelwissenschaften vollbringt, führt den Gelehrten in der That in mehrere Zusammenhänge, deren Enden von ihm selber weder aufgefunden noch verknüpft werden zu können scheinen. Ich verdeutliche dies an dem Beispiel des Studiums poetischer Werke. -- Die mannichfaltige Welt der Dichtungen, in der Auf- einanderfolge ihrer Erscheinungen, kann zunächst nur in und aus der umfassenden Wirklichkeit des Kulturzusammenhangs verstanden werden. Denn Fabel, Motiv, Charaktere eines großen dichterischen Werkes sind durch das Lebensideal, die Weltansicht, sowie die ge- sellschaftliche Wirklichkeit der Zeit bedingt, in der es entstand, rück- wärts durch die weltgeschichtliche Uebertragung und Entwicklung dichterischer Stoffe, Motive und Charaktere. -- Andrerseits führt die Analyse eines dichterischen Werkes und seiner Wirkungen zurück auf die allgemeinen Gesetze, welche diesem Theil des in der Kunst vorliegenden Systems der Kultur zu Grunde liegen. Denn die wichtigsten Begriffe, durch welche ein dichterisches Werk erkannt wird, die Gesetze, welche in seiner Gestaltung wirken, sind in der Phantasie des Dichters und ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen begründet und können nur durch ihre Zergliederung gewonnen werden. Die Phantasie aber, welche uns als ein Wunder, als ein vom Alltagsleben der Menschen ganz verschie- denes Phänomen zunächst gegenübertritt, ist für die Analysis nur die mächtigere Organisation bestimmter Menschen, welche in der ausnahmsweisen Stärke bestimmter Vorgänge gegründet ist. So- nach baut sich das geistige Leben seinen allgemeinen Gesetzen ge- mäß in diesen mächtigen Organisationen zu einem Ganzen von Form und Leistung auf, welches von der Natur der Durchschnitts- menschen ganz abweicht und doch nur in denselben Gesetzen ge- gründet ist. Wir werden also in die Anthropologie zurückgeführt. Die Correlatthatsache der Phantasie bildet die ästhetische Empfäng-
Erſtes einleitendes Buch.
lichkeit ſelber, als ein lebendiges Ganze, möchten wir erkennen. Und ſo werden wir unaufhaltſam dem allgemeinſten und letzten Problem der Geiſteswiſſenſchaften entgegengetrieben: giebt es eine Erkennt- niß dieſes Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit?
Die wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Thatſachen, welche irgend eine der Einzelwiſſenſchaften vollbringt, führt den Gelehrten in der That in mehrere Zuſammenhänge, deren Enden von ihm ſelber weder aufgefunden noch verknüpft werden zu können ſcheinen. Ich verdeutliche dies an dem Beiſpiel des Studiums poetiſcher Werke. — Die mannichfaltige Welt der Dichtungen, in der Auf- einanderfolge ihrer Erſcheinungen, kann zunächſt nur in und aus der umfaſſenden Wirklichkeit des Kulturzuſammenhangs verſtanden werden. Denn Fabel, Motiv, Charaktere eines großen dichteriſchen Werkes ſind durch das Lebensideal, die Weltanſicht, ſowie die ge- ſellſchaftliche Wirklichkeit der Zeit bedingt, in der es entſtand, rück- wärts durch die weltgeſchichtliche Uebertragung und Entwicklung dichteriſcher Stoffe, Motive und Charaktere. — Andrerſeits führt die Analyſe eines dichteriſchen Werkes und ſeiner Wirkungen zurück auf die allgemeinen Geſetze, welche dieſem Theil des in der Kunſt vorliegenden Syſtems der Kultur zu Grunde liegen. Denn die wichtigſten Begriffe, durch welche ein dichteriſches Werk erkannt wird, die Geſetze, welche in ſeiner Geſtaltung wirken, ſind in der Phantaſie des Dichters und ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen begründet und können nur durch ihre Zergliederung gewonnen werden. Die Phantaſie aber, welche uns als ein Wunder, als ein vom Alltagsleben der Menſchen ganz verſchie- denes Phänomen zunächſt gegenübertritt, iſt für die Analyſis nur die mächtigere Organiſation beſtimmter Menſchen, welche in der ausnahmsweiſen Stärke beſtimmter Vorgänge gegründet iſt. So- nach baut ſich das geiſtige Leben ſeinen allgemeinen Geſetzen ge- mäß in dieſen mächtigen Organiſationen zu einem Ganzen von Form und Leiſtung auf, welches von der Natur der Durchſchnitts- menſchen ganz abweicht und doch nur in denſelben Geſetzen ge- gründet iſt. Wir werden alſo in die Anthropologie zurückgeführt. Die Correlatthatſache der Phantaſie bildet die äſthetiſche Empfäng-
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Erſtes einleitendes Buch.
lichkeit ſelber, als ein lebendiges Ganze, möchten wir erkennen. Und
ſo werden wir unaufhaltſam dem allgemeinſten und letzten Problem
der Geiſteswiſſenſchaften entgegengetrieben: giebt es eine Erkennt-
niß dieſes Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit?
Die wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Thatſachen, welche irgend
eine der Einzelwiſſenſchaften vollbringt, führt den Gelehrten in
der That in mehrere Zuſammenhänge, deren Enden von ihm
ſelber weder aufgefunden noch verknüpft werden zu können ſcheinen.
Ich verdeutliche dies an dem Beiſpiel des Studiums poetiſcher
Werke. — Die mannichfaltige Welt der Dichtungen, in der Auf-
einanderfolge ihrer Erſcheinungen, kann zunächſt nur in und aus
der umfaſſenden Wirklichkeit des Kulturzuſammenhangs verſtanden
werden. Denn Fabel, Motiv, Charaktere eines großen dichteriſchen
Werkes ſind durch das Lebensideal, die Weltanſicht, ſowie die ge-
ſellſchaftliche Wirklichkeit der Zeit bedingt, in der es entſtand, rück-
wärts durch die weltgeſchichtliche Uebertragung und Entwicklung
dichteriſcher Stoffe, Motive und Charaktere. — Andrerſeits führt die
Analyſe eines dichteriſchen Werkes und ſeiner Wirkungen zurück
auf die allgemeinen Geſetze, welche dieſem Theil des in der Kunſt
vorliegenden Syſtems der Kultur zu Grunde liegen. Denn die
wichtigſten Begriffe, durch welche ein dichteriſches Werk erkannt
wird, die Geſetze, welche in ſeiner Geſtaltung wirken, ſind in
der Phantaſie des Dichters und ihrer Stellung zur Welt der
Erfahrungen begründet und können nur durch ihre Zergliederung
gewonnen werden. Die Phantaſie aber, welche uns als ein
Wunder, als ein vom Alltagsleben der Menſchen ganz verſchie-
denes Phänomen zunächſt gegenübertritt, iſt für die Analyſis nur
die mächtigere Organiſation beſtimmter Menſchen, welche in der
ausnahmsweiſen Stärke beſtimmter Vorgänge gegründet iſt. So-
nach baut ſich das geiſtige Leben ſeinen allgemeinen Geſetzen ge-
mäß in dieſen mächtigen Organiſationen zu einem Ganzen von
Form und Leiſtung auf, welches von der Natur der Durchſchnitts-
menſchen ganz abweicht und doch nur in denſelben Geſetzen ge-
gründet iſt. Wir werden alſo in die Anthropologie zurückgeführt.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/133>, abgerufen am 23.11.2024.
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