Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite
Erstes einleitendes Buch.

Das Studium der äußeren Organisation der Gesellschaft hat,
seitdem es in Europa auftrat, seinen Mittelpunkt in der Staats-
wissenschaft
. In der Abenddämmerung des Lebens der griechischen
Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche
das Fundament dieser Wissenschaft gelegt haben. Wohl bestanden
damals noch die Phylen und Phratrien einerseits, die Demen
andrerseits, als die Reste der alten Geschlechter- und Gemeinde-
ordnungen, besaßen Rechtspersönlichkeit und Vermögen, neben ihnen
bestanden auch freie Genossenschaften. Aber im positiven Rechte
Athens scheint1) zwischen dem Beschluß einer Corporation und der
Abrede für eine gemeinsame Handelsunternehmung kein Unterschied
bestanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von koinonia
wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterscheidung
wie die römische zwischen universitas und societas hatte sich nicht
herausgebildet. Aristoteles formulirt daher nur das Ergebniß
der griechischen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff
der koinonia in seiner Politik ausgeht, das genetische Verhält-
niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband
(kome), von diesem zum Stadtstaat (polis) führt, alsdann aber
den Dorfverband, als ein Stadium von nur geschichtlichem In-
teresse in seiner politischen Theorie selber verschwinden läßt und
den freien Genossenschaften keine Stelle in seinem Staate zutheilt.
War doch im griechischen Leben in der Herrschaftsordnung des
Stadtstaates alles Verbandsleben untergegangen. -- Es entwickelten
sich dann weitere Bestandtheile einer Theorie der äußeren Organi-
sation der Gesellschaft in der Rechtswissenschaft, in der kirchlichen
Wissenschaft: am hellen Tage der Geschichte sehen wir den größten
Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholische Kirche,
heranwachsen und in theoretischen Formeln seine Natur aussprechen,
aus ihr heraus seine Rechtsordnung sich schaffen.

Die europäische Gesellschaft zeigte nach der französischen Re-
volution ein ganz neues Phänomen, als sozusagen die Hemmungs-
apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organisation zwischen
den starken Leidenschaften der arbeitenden Classen und der die

1) Vgl. das Solon zugeschriebene Gesetz Corp. jur. l. 4 Dig. de coll. 47, 22.
Erſtes einleitendes Buch.

Das Studium der äußeren Organiſation der Geſellſchaft hat,
ſeitdem es in Europa auftrat, ſeinen Mittelpunkt in der Staats-
wiſſenſchaft
. In der Abenddämmerung des Lebens der griechiſchen
Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche
das Fundament dieſer Wiſſenſchaft gelegt haben. Wohl beſtanden
damals noch die Phylen und Phratrien einerſeits, die Demen
andrerſeits, als die Reſte der alten Geſchlechter- und Gemeinde-
ordnungen, beſaßen Rechtsperſönlichkeit und Vermögen, neben ihnen
beſtanden auch freie Genoſſenſchaften. Aber im poſitiven Rechte
Athens ſcheint1) zwiſchen dem Beſchluß einer Corporation und der
Abrede für eine gemeinſame Handelsunternehmung kein Unterſchied
beſtanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von κοινωνία
wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterſcheidung
wie die römiſche zwiſchen universitas und societas hatte ſich nicht
herausgebildet. Ariſtoteles formulirt daher nur das Ergebniß
der griechiſchen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff
der κοινωνία in ſeiner Politik ausgeht, das genetiſche Verhält-
niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband
(κώμη), von dieſem zum Stadtſtaat (πόλις) führt, alsdann aber
den Dorfverband, als ein Stadium von nur geſchichtlichem In-
tereſſe in ſeiner politiſchen Theorie ſelber verſchwinden läßt und
den freien Genoſſenſchaften keine Stelle in ſeinem Staate zutheilt.
War doch im griechiſchen Leben in der Herrſchaftsordnung des
Stadtſtaates alles Verbandsleben untergegangen. — Es entwickelten
ſich dann weitere Beſtandtheile einer Theorie der äußeren Organi-
ſation der Geſellſchaft in der Rechtswiſſenſchaft, in der kirchlichen
Wiſſenſchaft: am hellen Tage der Geſchichte ſehen wir den größten
Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholiſche Kirche,
heranwachſen und in theoretiſchen Formeln ſeine Natur ausſprechen,
aus ihr heraus ſeine Rechtsordnung ſich ſchaffen.

Die europäiſche Geſellſchaft zeigte nach der franzöſiſchen Re-
volution ein ganz neues Phänomen, als ſozuſagen die Hemmungs-
apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organiſation zwiſchen
den ſtarken Leidenſchaften der arbeitenden Claſſen und der die

1) Vgl. das Solon zugeſchriebene Geſetz Corp. jur. l. 4 Dig. de coll. 47, 22.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0127" n="104"/>
            <fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes einleitendes Buch.</fw><lb/>
            <p>Das Studium der äußeren Organi&#x017F;ation der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft hat,<lb/>
&#x017F;eitdem es in Europa auftrat, &#x017F;einen Mittelpunkt in der <hi rendition="#g">Staats-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft</hi>. In der Abenddämmerung des Lebens der griechi&#x017F;chen<lb/>
Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche<lb/>
das Fundament die&#x017F;er Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft gelegt haben. Wohl be&#x017F;tanden<lb/>
damals noch die Phylen und Phratrien einer&#x017F;eits, die Demen<lb/>
andrer&#x017F;eits, als die Re&#x017F;te der alten Ge&#x017F;chlechter- und Gemeinde-<lb/>
ordnungen, be&#x017F;aßen Rechtsper&#x017F;önlichkeit und Vermögen, neben ihnen<lb/>
be&#x017F;tanden auch freie Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften. Aber im po&#x017F;itiven Rechte<lb/>
Athens &#x017F;cheint<note place="foot" n="1)">Vgl. das Solon zuge&#x017F;chriebene Ge&#x017F;etz <hi rendition="#aq">Corp. jur. l. 4 Dig. de coll. 47, 22</hi>.</note> zwi&#x017F;chen dem Be&#x017F;chluß einer Corporation und der<lb/>
Abrede für eine gemein&#x017F;ame Handelsunternehmung kein Unter&#x017F;chied<lb/>
be&#x017F;tanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von &#x03BA;&#x03BF;&#x03B9;&#x03BD;&#x03C9;&#x03BD;&#x03AF;&#x03B1;<lb/>
wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unter&#x017F;cheidung<lb/>
wie die römi&#x017F;che zwi&#x017F;chen <hi rendition="#aq">universitas</hi> und <hi rendition="#aq">societas</hi> hatte &#x017F;ich nicht<lb/>
herausgebildet. Ari&#x017F;toteles formulirt daher nur das Ergebniß<lb/>
der griechi&#x017F;chen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff<lb/>
der &#x03BA;&#x03BF;&#x03B9;&#x03BD;&#x03C9;&#x03BD;&#x03AF;&#x03B1; in &#x017F;einer Politik ausgeht, das geneti&#x017F;che Verhält-<lb/>
niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband<lb/>
(&#x03BA;&#x03CE;&#x03BC;&#x03B7;), von die&#x017F;em zum Stadt&#x017F;taat (&#x03C0;&#x03CC;&#x03BB;&#x03B9;&#x03C2;) führt, alsdann aber<lb/>
den Dorfverband, als ein Stadium von nur ge&#x017F;chichtlichem In-<lb/>
tere&#x017F;&#x017F;e in &#x017F;einer politi&#x017F;chen Theorie &#x017F;elber ver&#x017F;chwinden läßt und<lb/>
den freien Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften keine Stelle in &#x017F;einem Staate zutheilt.<lb/>
War doch im griechi&#x017F;chen Leben in der Herr&#x017F;chaftsordnung des<lb/>
Stadt&#x017F;taates alles Verbandsleben untergegangen. &#x2014; Es entwickelten<lb/>
&#x017F;ich dann weitere Be&#x017F;tandtheile einer Theorie der äußeren Organi-<lb/>
&#x017F;ation der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft in der Rechtswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, in der kirchlichen<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft: am hellen Tage der Ge&#x017F;chichte &#x017F;ehen wir den größten<lb/>
Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholi&#x017F;che Kirche,<lb/>
heranwach&#x017F;en und in theoreti&#x017F;chen Formeln &#x017F;eine Natur aus&#x017F;prechen,<lb/>
aus ihr heraus &#x017F;eine Rechtsordnung &#x017F;ich &#x017F;chaffen.</p><lb/>
            <p>Die europäi&#x017F;che Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zeigte nach der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Re-<lb/>
volution ein ganz neues Phänomen, als &#x017F;ozu&#x017F;agen die Hemmungs-<lb/>
apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organi&#x017F;ation zwi&#x017F;chen<lb/>
den &#x017F;tarken Leiden&#x017F;chaften der arbeitenden Cla&#x017F;&#x017F;en und der die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0127] Erſtes einleitendes Buch. Das Studium der äußeren Organiſation der Geſellſchaft hat, ſeitdem es in Europa auftrat, ſeinen Mittelpunkt in der Staats- wiſſenſchaft. In der Abenddämmerung des Lebens der griechiſchen Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche das Fundament dieſer Wiſſenſchaft gelegt haben. Wohl beſtanden damals noch die Phylen und Phratrien einerſeits, die Demen andrerſeits, als die Reſte der alten Geſchlechter- und Gemeinde- ordnungen, beſaßen Rechtsperſönlichkeit und Vermögen, neben ihnen beſtanden auch freie Genoſſenſchaften. Aber im poſitiven Rechte Athens ſcheint 1) zwiſchen dem Beſchluß einer Corporation und der Abrede für eine gemeinſame Handelsunternehmung kein Unterſchied beſtanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von κοινωνία wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterſcheidung wie die römiſche zwiſchen universitas und societas hatte ſich nicht herausgebildet. Ariſtoteles formulirt daher nur das Ergebniß der griechiſchen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff der κοινωνία in ſeiner Politik ausgeht, das genetiſche Verhält- niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband (κώμη), von dieſem zum Stadtſtaat (πόλις) führt, alsdann aber den Dorfverband, als ein Stadium von nur geſchichtlichem In- tereſſe in ſeiner politiſchen Theorie ſelber verſchwinden läßt und den freien Genoſſenſchaften keine Stelle in ſeinem Staate zutheilt. War doch im griechiſchen Leben in der Herrſchaftsordnung des Stadtſtaates alles Verbandsleben untergegangen. — Es entwickelten ſich dann weitere Beſtandtheile einer Theorie der äußeren Organi- ſation der Geſellſchaft in der Rechtswiſſenſchaft, in der kirchlichen Wiſſenſchaft: am hellen Tage der Geſchichte ſehen wir den größten Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholiſche Kirche, heranwachſen und in theoretiſchen Formeln ſeine Natur ausſprechen, aus ihr heraus ſeine Rechtsordnung ſich ſchaffen. Die europäiſche Geſellſchaft zeigte nach der franzöſiſchen Re- volution ein ganz neues Phänomen, als ſozuſagen die Hemmungs- apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organiſation zwiſchen den ſtarken Leidenſchaften der arbeitenden Claſſen und der die 1) Vgl. das Solon zugeſchriebene Geſetz Corp. jur. l. 4 Dig. de coll. 47, 22.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/127
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/127>, abgerufen am 05.05.2024.