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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Verhältniß zwischen Rechts- und Staatswissenschaften.

Auf dem Thatbestand, den das Naturrecht so auszudrücken
versuchte, beruht die Eine Seite des Verhältnisses zwischen Rechts-
und Staatswissenschaften: die relative Selbständigkeit der ersteren.
Das Recht ist Selbstzweck. Das Rechtsbewußtsein wirkt im Vor-
gang der Entstehung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung
mit den organisirten Gesammtwillen zusammen. Denn es ist
Willensinhalt, dessen Macht in die Tiefe der Persönlichkeit und
des religiösen Erlebnisses zurückreicht.

Die Conception des Naturrechts wurde dadurch fehlerhaft,
daß dieser Zweckzusammenhang im Recht losgelöst von seinen Be-
ziehungen, insbesondere denen zum Wirthschaftsleben sowie zur
äußeren Organisation der Gesellschaft, betrachtet und in eine Region
jenseit der geschichtlichen Entwicklung versetzt wurde. So nahmen
Abstraktionen den Platz der Wirklichkeiten ein; die Mehrheit der
Gestaltungen der Rechtsordnung blieb der Erklärung unzugänglich.

Der Kern dieser abstrakten Theorien kann nur durch die Me-
thode, welche allen Wissenschaften der Gesellschaft gemeinsam ist,
nämlich Verbindung geschichtlicher mit psychologischer Analysis, eine
wissenschaftliche Bearbeitung empfangen. An diesem Punkte ist ein
weiterer Schluß in der Verkettung der Gedanken möglich, welche in
die Stellung der Einzelwissenschaften des Geistes zu ihrer Grund-
legung zurückführen. Dies Problem, welches sich das Natur-
recht stellte
, ist nur lösbar im Zusammenhang der
positiven Wissenschaften des Rechts. Diese ihrerseits
können ein klares Bewußtsein der Stellung der Abstraktionen, durch
welche sie erkennen, zu der Wirklichkeit nur vermittelst einer grund-
legenden erkenntniß-theoretischen Wissenschaft, vermittelst der Fest-
stellung der Beziehung der Begriffe und Sätze, deren sie sich bedienen,
zu den psychologischen und psychophysischen erhalten. Hieraus
folgt, daß es eine besondere Philosophie des Rechts nicht giebt,

rechtlichen Theorie muß die andere ganz abgetrennt werden, welche in der
negativen Schule der Theoretiker der Gewalt und der Interessen sich ent-
wickelt hat, deren Hauptvertreter im Alterthum Thrasymachos war und
von der uns Plato eine systematische Darstellung hinterlassen hat.
7*
Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften.

Auf dem Thatbeſtand, den das Naturrecht ſo auszudrücken
verſuchte, beruht die Eine Seite des Verhältniſſes zwiſchen Rechts-
und Staatswiſſenſchaften: die relative Selbſtändigkeit der erſteren.
Das Recht iſt Selbſtzweck. Das Rechtsbewußtſein wirkt im Vor-
gang der Entſtehung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung
mit den organiſirten Geſammtwillen zuſammen. Denn es iſt
Willensinhalt, deſſen Macht in die Tiefe der Perſönlichkeit und
des religiöſen Erlebniſſes zurückreicht.

Die Conception des Naturrechts wurde dadurch fehlerhaft,
daß dieſer Zweckzuſammenhang im Recht losgelöſt von ſeinen Be-
ziehungen, insbeſondere denen zum Wirthſchaftsleben ſowie zur
äußeren Organiſation der Geſellſchaft, betrachtet und in eine Region
jenſeit der geſchichtlichen Entwicklung verſetzt wurde. So nahmen
Abſtraktionen den Platz der Wirklichkeiten ein; die Mehrheit der
Geſtaltungen der Rechtsordnung blieb der Erklärung unzugänglich.

Der Kern dieſer abſtrakten Theorien kann nur durch die Me-
thode, welche allen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft gemeinſam iſt,
nämlich Verbindung geſchichtlicher mit pſychologiſcher Analyſis, eine
wiſſenſchaftliche Bearbeitung empfangen. An dieſem Punkte iſt ein
weiterer Schluß in der Verkettung der Gedanken möglich, welche in
die Stellung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes zu ihrer Grund-
legung zurückführen. Dies Problem, welches ſich das Natur-
recht ſtellte
, iſt nur lösbar im Zuſammenhang der
poſitiven Wiſſenſchaften des Rechts. Dieſe ihrerſeits
können ein klares Bewußtſein der Stellung der Abſtraktionen, durch
welche ſie erkennen, zu der Wirklichkeit nur vermittelſt einer grund-
legenden erkenntniß-theoretiſchen Wiſſenſchaft, vermittelſt der Feſt-
ſtellung der Beziehung der Begriffe und Sätze, deren ſie ſich bedienen,
zu den pſychologiſchen und pſychophyſiſchen erhalten. Hieraus
folgt, daß es eine beſondere Philoſophie des Rechts nicht giebt,

rechtlichen Theorie muß die andere ganz abgetrennt werden, welche in der
negativen Schule der Theoretiker der Gewalt und der Intereſſen ſich ent-
wickelt hat, deren Hauptvertreter im Alterthum Thraſymachos war und
von der uns Plato eine ſyſtematiſche Darſtellung hinterlaſſen hat.
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[99/0122] Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften. Auf dem Thatbeſtand, den das Naturrecht ſo auszudrücken verſuchte, beruht die Eine Seite des Verhältniſſes zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften: die relative Selbſtändigkeit der erſteren. Das Recht iſt Selbſtzweck. Das Rechtsbewußtſein wirkt im Vor- gang der Entſtehung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung mit den organiſirten Geſammtwillen zuſammen. Denn es iſt Willensinhalt, deſſen Macht in die Tiefe der Perſönlichkeit und des religiöſen Erlebniſſes zurückreicht. Die Conception des Naturrechts wurde dadurch fehlerhaft, daß dieſer Zweckzuſammenhang im Recht losgelöſt von ſeinen Be- ziehungen, insbeſondere denen zum Wirthſchaftsleben ſowie zur äußeren Organiſation der Geſellſchaft, betrachtet und in eine Region jenſeit der geſchichtlichen Entwicklung verſetzt wurde. So nahmen Abſtraktionen den Platz der Wirklichkeiten ein; die Mehrheit der Geſtaltungen der Rechtsordnung blieb der Erklärung unzugänglich. Der Kern dieſer abſtrakten Theorien kann nur durch die Me- thode, welche allen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft gemeinſam iſt, nämlich Verbindung geſchichtlicher mit pſychologiſcher Analyſis, eine wiſſenſchaftliche Bearbeitung empfangen. An dieſem Punkte iſt ein weiterer Schluß in der Verkettung der Gedanken möglich, welche in die Stellung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes zu ihrer Grund- legung zurückführen. Dies Problem, welches ſich das Natur- recht ſtellte, iſt nur lösbar im Zuſammenhang der poſitiven Wiſſenſchaften des Rechts. Dieſe ihrerſeits können ein klares Bewußtſein der Stellung der Abſtraktionen, durch welche ſie erkennen, zu der Wirklichkeit nur vermittelſt einer grund- legenden erkenntniß-theoretiſchen Wiſſenſchaft, vermittelſt der Feſt- ſtellung der Beziehung der Begriffe und Sätze, deren ſie ſich bedienen, zu den pſychologiſchen und pſychophyſiſchen erhalten. Hieraus folgt, daß es eine beſondere Philoſophie des Rechts nicht giebt, 2) 2) rechtlichen Theorie muß die andere ganz abgetrennt werden, welche in der negativen Schule der Theoretiker der Gewalt und der Intereſſen ſich ent- wickelt hat, deren Hauptvertreter im Alterthum Thraſymachos war und von der uns Plato eine ſyſtematiſche Darſtellung hinterlaſſen hat. 7*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/122>, abgerufen am 23.11.2024.