Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes einleitendes Buch.
zwischen den psycho-physischen Lebenseinheiten her; die Anderen
haben einen solchen Zweckzusammenhang zur Folge und stellen
sich dem entsprechend in einem System dar, und zwar wird die
Aufgabe, welche in ihnen wirksam ist, in einigen Fällen durch
eine bloße Coordination der Personen im Zweckzusammenhang
vollbracht, während in anderen Fällen die Erfüllung der Auf-
gabe von der Willenseinheit des Verbandes getragen ist.

In den Wurzeln der menschlichen Existenz und des gesellschaft-
lichen Zusammenlebens sind Systeme und äußere Organisation so
ineinandergewachsen, daß nur die Verschiedenheit der Betrachtungs-
weise sie sondert. Die am meisten vitalen Interessen des Menschen
sind die Unterwerfung der zur Befriedigung seiner Bedürfnisse
dienenden Mittel oder Güter unter seinen Willen und ihre Um-
änderung gemäß diesen Bedürfnissen, zugleich aber die Sicherung
seiner Person und des so entstandenen Eigenthums. Hier ist
die Beziehung zwischen dem Recht und dem Staat angelegt
Den Unbilden der Natur mag der Körper des Menschen lange
widerstehen: aber sein Leben und was er bedarf, um zu leben, ist
stündlich von seines Gleichen bedroht. Daher war die Betrachtung
der Verknüpfung psychischer Elemente in mehreren Personen unter
einem Zweckzusammenhang zu einem System eine Abstraktion.
Die regellose Gewalt der Leidenschaften gestattet den Menschen
nicht, sich in die Ordnung eines solchen Zweckzusammenhangs in
klarer Selbstbeschränkung einzufügen: eine starke Hand hält jeden
in seinen Grenzen: der Verband, der diese Aufgabe vollbringt,
der also jeder Macht auf dem Gebiet, über das seine starke Hand
sich erstreckt, überlegen sein und daher mit dem Attribut der Sou-
veränität ausgestattet sein muß, ist Staat, gleichviel ob er noch
in Familieneinheit oder Geschlechterverein oder Gemeinde beschlossen
ist, oder ob seine Funktionen sich schon von denen dieser Verbände
gesondert haben. Der Staat erfüllt nicht etwa durch seine Willens-
einheit eine Aufgabe, die sonst weniger gut durch Coordination
von Einzelthätigkeiten besorgt würde: er ist die Bedingung jeder
solchen Coordination. Diese Funktion des Schutzes wendet sich
nach außen in der Vertheidigung der Unterthanen; nach innen in

Erſtes einleitendes Buch.
zwiſchen den pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten her; die Anderen
haben einen ſolchen Zweckzuſammenhang zur Folge und ſtellen
ſich dem entſprechend in einem Syſtem dar, und zwar wird die
Aufgabe, welche in ihnen wirkſam iſt, in einigen Fällen durch
eine bloße Coordination der Perſonen im Zweckzuſammenhang
vollbracht, während in anderen Fällen die Erfüllung der Auf-
gabe von der Willenseinheit des Verbandes getragen iſt.

In den Wurzeln der menſchlichen Exiſtenz und des geſellſchaft-
lichen Zuſammenlebens ſind Syſteme und äußere Organiſation ſo
ineinandergewachſen, daß nur die Verſchiedenheit der Betrachtungs-
weiſe ſie ſondert. Die am meiſten vitalen Intereſſen des Menſchen
ſind die Unterwerfung der zur Befriedigung ſeiner Bedürfniſſe
dienenden Mittel oder Güter unter ſeinen Willen und ihre Um-
änderung gemäß dieſen Bedürfniſſen, zugleich aber die Sicherung
ſeiner Perſon und des ſo entſtandenen Eigenthums. Hier iſt
die Beziehung zwiſchen dem Recht und dem Staat angelegt
Den Unbilden der Natur mag der Körper des Menſchen lange
widerſtehen: aber ſein Leben und was er bedarf, um zu leben, iſt
ſtündlich von ſeines Gleichen bedroht. Daher war die Betrachtung
der Verknüpfung pſychiſcher Elemente in mehreren Perſonen unter
einem Zweckzuſammenhang zu einem Syſtem eine Abſtraktion.
Die regelloſe Gewalt der Leidenſchaften geſtattet den Menſchen
nicht, ſich in die Ordnung eines ſolchen Zweckzuſammenhangs in
klarer Selbſtbeſchränkung einzufügen: eine ſtarke Hand hält jeden
in ſeinen Grenzen: der Verband, der dieſe Aufgabe vollbringt,
der alſo jeder Macht auf dem Gebiet, über das ſeine ſtarke Hand
ſich erſtreckt, überlegen ſein und daher mit dem Attribut der Sou-
veränität ausgeſtattet ſein muß, iſt Staat, gleichviel ob er noch
in Familieneinheit oder Geſchlechterverein oder Gemeinde beſchloſſen
iſt, oder ob ſeine Funktionen ſich ſchon von denen dieſer Verbände
geſondert haben. Der Staat erfüllt nicht etwa durch ſeine Willens-
einheit eine Aufgabe, die ſonſt weniger gut durch Coordination
von Einzelthätigkeiten beſorgt würde: er iſt die Bedingung jeder
ſolchen Coordination. Dieſe Funktion des Schutzes wendet ſich
nach außen in der Vertheidigung der Unterthanen; nach innen in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0119" n="96"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes einleitendes Buch.</fw><lb/>
zwi&#x017F;chen den p&#x017F;ycho-phy&#x017F;i&#x017F;chen Lebenseinheiten her; die Anderen<lb/>
haben einen &#x017F;olchen Zweckzu&#x017F;ammenhang zur Folge und &#x017F;tellen<lb/>
&#x017F;ich dem ent&#x017F;prechend in einem Sy&#x017F;tem dar, und zwar wird die<lb/>
Aufgabe, welche in ihnen wirk&#x017F;am i&#x017F;t, in einigen Fällen durch<lb/>
eine bloße Coordination der Per&#x017F;onen im Zweckzu&#x017F;ammenhang<lb/>
vollbracht, während in anderen Fällen die Erfüllung der Auf-<lb/>
gabe von der Willenseinheit des Verbandes getragen i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>In den Wurzeln der men&#x017F;chlichen Exi&#x017F;tenz und des ge&#x017F;ell&#x017F;chaft-<lb/>
lichen Zu&#x017F;ammenlebens &#x017F;ind Sy&#x017F;teme und äußere Organi&#x017F;ation &#x017F;o<lb/>
ineinandergewach&#x017F;en, daß nur die Ver&#x017F;chiedenheit der Betrachtungs-<lb/>
wei&#x017F;e &#x017F;ie &#x017F;ondert. Die am mei&#x017F;ten vitalen Intere&#x017F;&#x017F;en des Men&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;ind die Unterwerfung der zur Befriedigung &#x017F;einer Bedürfni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
dienenden Mittel oder Güter unter &#x017F;einen Willen und ihre Um-<lb/>
änderung gemäß die&#x017F;en Bedürfni&#x017F;&#x017F;en, zugleich aber die Sicherung<lb/>
&#x017F;einer Per&#x017F;on und des &#x017F;o ent&#x017F;tandenen Eigenthums. Hier i&#x017F;t<lb/>
die Beziehung zwi&#x017F;chen dem Recht und dem Staat angelegt<lb/>
Den Unbilden der Natur mag der Körper des Men&#x017F;chen lange<lb/>
wider&#x017F;tehen: aber &#x017F;ein Leben und was er bedarf, um zu leben, i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;tündlich von &#x017F;eines Gleichen bedroht. Daher war die Betrachtung<lb/>
der Verknüpfung p&#x017F;ychi&#x017F;cher Elemente in mehreren Per&#x017F;onen unter<lb/>
einem Zweckzu&#x017F;ammenhang zu einem Sy&#x017F;tem eine Ab&#x017F;traktion.<lb/>
Die regello&#x017F;e Gewalt der Leiden&#x017F;chaften ge&#x017F;tattet den Men&#x017F;chen<lb/>
nicht, &#x017F;ich in die Ordnung eines &#x017F;olchen Zweckzu&#x017F;ammenhangs in<lb/>
klarer Selb&#x017F;tbe&#x017F;chränkung einzufügen: eine &#x017F;tarke Hand hält jeden<lb/>
in &#x017F;einen Grenzen: der Verband, der die&#x017F;e Aufgabe vollbringt,<lb/>
der al&#x017F;o jeder Macht auf dem Gebiet, über das &#x017F;eine &#x017F;tarke Hand<lb/>
&#x017F;ich er&#x017F;treckt, überlegen &#x017F;ein und daher mit dem Attribut der Sou-<lb/>
veränität ausge&#x017F;tattet &#x017F;ein muß, i&#x017F;t Staat, gleichviel ob er noch<lb/>
in Familieneinheit oder Ge&#x017F;chlechterverein oder Gemeinde be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
i&#x017F;t, oder ob &#x017F;eine Funktionen &#x017F;ich &#x017F;chon von denen die&#x017F;er Verbände<lb/>
ge&#x017F;ondert haben. Der Staat erfüllt nicht etwa durch &#x017F;eine Willens-<lb/>
einheit eine Aufgabe, die &#x017F;on&#x017F;t weniger gut durch Coordination<lb/>
von Einzelthätigkeiten be&#x017F;orgt würde: er i&#x017F;t die Bedingung jeder<lb/>
&#x017F;olchen Coordination. Die&#x017F;e Funktion des Schutzes wendet &#x017F;ich<lb/>
nach außen in der Vertheidigung der Unterthanen; nach innen in<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0119] Erſtes einleitendes Buch. zwiſchen den pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten her; die Anderen haben einen ſolchen Zweckzuſammenhang zur Folge und ſtellen ſich dem entſprechend in einem Syſtem dar, und zwar wird die Aufgabe, welche in ihnen wirkſam iſt, in einigen Fällen durch eine bloße Coordination der Perſonen im Zweckzuſammenhang vollbracht, während in anderen Fällen die Erfüllung der Auf- gabe von der Willenseinheit des Verbandes getragen iſt. In den Wurzeln der menſchlichen Exiſtenz und des geſellſchaft- lichen Zuſammenlebens ſind Syſteme und äußere Organiſation ſo ineinandergewachſen, daß nur die Verſchiedenheit der Betrachtungs- weiſe ſie ſondert. Die am meiſten vitalen Intereſſen des Menſchen ſind die Unterwerfung der zur Befriedigung ſeiner Bedürfniſſe dienenden Mittel oder Güter unter ſeinen Willen und ihre Um- änderung gemäß dieſen Bedürfniſſen, zugleich aber die Sicherung ſeiner Perſon und des ſo entſtandenen Eigenthums. Hier iſt die Beziehung zwiſchen dem Recht und dem Staat angelegt Den Unbilden der Natur mag der Körper des Menſchen lange widerſtehen: aber ſein Leben und was er bedarf, um zu leben, iſt ſtündlich von ſeines Gleichen bedroht. Daher war die Betrachtung der Verknüpfung pſychiſcher Elemente in mehreren Perſonen unter einem Zweckzuſammenhang zu einem Syſtem eine Abſtraktion. Die regelloſe Gewalt der Leidenſchaften geſtattet den Menſchen nicht, ſich in die Ordnung eines ſolchen Zweckzuſammenhangs in klarer Selbſtbeſchränkung einzufügen: eine ſtarke Hand hält jeden in ſeinen Grenzen: der Verband, der dieſe Aufgabe vollbringt, der alſo jeder Macht auf dem Gebiet, über das ſeine ſtarke Hand ſich erſtreckt, überlegen ſein und daher mit dem Attribut der Sou- veränität ausgeſtattet ſein muß, iſt Staat, gleichviel ob er noch in Familieneinheit oder Geſchlechterverein oder Gemeinde beſchloſſen iſt, oder ob ſeine Funktionen ſich ſchon von denen dieſer Verbände geſondert haben. Der Staat erfüllt nicht etwa durch ſeine Willens- einheit eine Aufgabe, die ſonſt weniger gut durch Coordination von Einzelthätigkeiten beſorgt würde: er iſt die Bedingung jeder ſolchen Coordination. Dieſe Funktion des Schutzes wendet ſich nach außen in der Vertheidigung der Unterthanen; nach innen in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/119
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/119>, abgerufen am 24.11.2024.