Ersinnen, welchen wir als Göthe's Leben bezeichnen, aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten und so besser erkennbar zu machen im Stande ist, wird auch die selbständige Stellung einer solchen Wissenschaft nicht bestritten werden. Da nun was für uns da ist, vermöge dieser inneren Erfahrung besteht, was für uns Werth hat oder Zweck ist, nur in dem Erlebniß unsres Gefühls und unsres Willens uns so gegeben ist: so liegen in dieser Wissenschaft die Prinzipien unsers Erkennens, welche darüber bestimmen, wiefern Natur für uns existiren kann, die Prinzipien unseres Handelns, welche das Vorhandensein von Zwecken, Gütern, Werthen erklären, in dem aller praktische Ver- kehr mit der Natur gegründet ist.
Die tiefere Begründung der selbständigen Stellung der Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften, welche Stellung den Mittelpunkt der Construktion der Geisteswissenschaften in diesem Werke bildet, vollzieht sich in diesem selber schrittweise, indem die Analysis des Gesammterlebnisses der geistigen Welt, in seiner Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur, in ihm durchgeführt wird. Ich verdeutliche hier nur dies Problem, indem ich auf den zweifachen Sinn hinweise, in welchem die Un- vergleichbarkeit dieser beiden Thatsachenkreise behauptet werden kann: entsprechend empfängt auch der Begriff von Grenzen des Naturerkennens eine zweifache Bedeutung.
Einer unsrer ersten Naturforscher hat diese Grenzen in einer vielbesprochenen Abhandlung zu bestimmen unternommen, und so- eben diese Grenzbestimmung seiner Wissenschaft näher erläutert 1). Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Be- wegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren constante Cen- tralkräfte bewirkt wären, so würde das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. "Ein Geist" -- von dieser Vorstellung von Laplace geht er aus --, "der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche in der Natur wirksam sind, und die gegenseitige Lage der
1) Emil Du Bois-Reymond, über die Grenzen des Naturerkennens. 1872. Vgl.: Die sieben Welträthsel. 1881.
Auflöſung derſelben. Kritiſche Begründung.
Erſinnen, welchen wir als Göthe’s Leben bezeichnen, aus dem Bau ſeines Gehirns, den Eigenſchaften ſeines Körpers abzuleiten und ſo beſſer erkennbar zu machen im Stande iſt, wird auch die ſelbſtändige Stellung einer ſolchen Wiſſenſchaft nicht beſtritten werden. Da nun was für uns da iſt, vermöge dieſer inneren Erfahrung beſteht, was für uns Werth hat oder Zweck iſt, nur in dem Erlebniß unſres Gefühls und unſres Willens uns ſo gegeben iſt: ſo liegen in dieſer Wiſſenſchaft die Prinzipien unſers Erkennens, welche darüber beſtimmen, wiefern Natur für uns exiſtiren kann, die Prinzipien unſeres Handelns, welche das Vorhandenſein von Zwecken, Gütern, Werthen erklären, in dem aller praktiſche Ver- kehr mit der Natur gegründet iſt.
Die tiefere Begründung der ſelbſtändigen Stellung der Geiſteswiſſenſchaften neben den Naturwiſſenſchaften, welche Stellung den Mittelpunkt der Conſtruktion der Geiſteswiſſenſchaften in dieſem Werke bildet, vollzieht ſich in dieſem ſelber ſchrittweiſe, indem die Analyſis des Geſammterlebniſſes der geiſtigen Welt, in ſeiner Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur, in ihm durchgeführt wird. Ich verdeutliche hier nur dies Problem, indem ich auf den zweifachen Sinn hinweiſe, in welchem die Un- vergleichbarkeit dieſer beiden Thatſachenkreiſe behauptet werden kann: entſprechend empfängt auch der Begriff von Grenzen des Naturerkennens eine zweifache Bedeutung.
Einer unſrer erſten Naturforſcher hat dieſe Grenzen in einer vielbeſprochenen Abhandlung zu beſtimmen unternommen, und ſo- eben dieſe Grenzbeſtimmung ſeiner Wiſſenſchaft näher erläutert 1). Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Be- wegungen von Atomen aufgelöſt, die durch deren conſtante Cen- tralkräfte bewirkt wären, ſo würde das Weltall naturwiſſenſchaftlich erkannt. „Ein Geiſt“ — von dieſer Vorſtellung von Laplace geht er aus —, „der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche in der Natur wirkſam ſind, und die gegenſeitige Lage der
1) Emil Du Bois-Reymond, über die Grenzen des Naturerkennens. 1872. Vgl.: Die ſieben Welträthſel. 1881.
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Auflöſung derſelben. Kritiſche Begründung.
Erſinnen, welchen wir als Göthe’s Leben bezeichnen, aus dem
Bau ſeines Gehirns, den Eigenſchaften ſeines Körpers abzuleiten
und ſo beſſer erkennbar zu machen im Stande iſt, wird auch die
ſelbſtändige Stellung einer ſolchen Wiſſenſchaft nicht beſtritten
werden. Da nun was für uns da iſt, vermöge dieſer inneren
Erfahrung beſteht, was für uns Werth hat oder Zweck iſt, nur in
dem Erlebniß unſres Gefühls und unſres Willens uns ſo gegeben
iſt: ſo liegen in dieſer Wiſſenſchaft die Prinzipien unſers Erkennens,
welche darüber beſtimmen, wiefern Natur für uns exiſtiren kann,
die Prinzipien unſeres Handelns, welche das Vorhandenſein von
Zwecken, Gütern, Werthen erklären, in dem aller praktiſche Ver-
kehr mit der Natur gegründet iſt.
Die tiefere Begründung der ſelbſtändigen Stellung der
Geiſteswiſſenſchaften neben den Naturwiſſenſchaften, welche Stellung
den Mittelpunkt der Conſtruktion der Geiſteswiſſenſchaften in dieſem
Werke bildet, vollzieht ſich in dieſem ſelber ſchrittweiſe, indem die
Analyſis des Geſammterlebniſſes der geiſtigen Welt, in ſeiner
Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur, in
ihm durchgeführt wird. Ich verdeutliche hier nur dies Problem,
indem ich auf den zweifachen Sinn hinweiſe, in welchem die Un-
vergleichbarkeit dieſer beiden Thatſachenkreiſe behauptet werden
kann: entſprechend empfängt auch der Begriff von Grenzen des
Naturerkennens eine zweifache Bedeutung.
Einer unſrer erſten Naturforſcher hat dieſe Grenzen in einer
vielbeſprochenen Abhandlung zu beſtimmen unternommen, und ſo-
eben dieſe Grenzbeſtimmung ſeiner Wiſſenſchaft näher erläutert 1).
Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Be-
wegungen von Atomen aufgelöſt, die durch deren conſtante Cen-
tralkräfte bewirkt wären, ſo würde das Weltall naturwiſſenſchaftlich
erkannt. „Ein Geiſt“ — von dieſer Vorſtellung von Laplace geht
er aus —, „der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte,
welche in der Natur wirkſam ſind, und die gegenſeitige Lage der
1) Emil Du Bois-Reymond, über die Grenzen des Naturerkennens. 1872.
Vgl.: Die ſieben Welträthſel. 1881.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/34>, abgerufen am 04.07.2024.
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