mir weiter, daß die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften eben von diesem Standpunkte aus eine Begründung findet, wie die historische Schule sie bedarf. Denn auf ihm erweist sich unser Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, den eine uns ver- borgene Wirklichkeit wirft, dagegen Realität wie sie ist besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Thatsachen des Bewußtseins. Die Analysis dieser Thatsachen ist das Centrum der Geisteswissenschaften, und so verbleibt, dem Geiste der histo- rischen Schule entsprechend, die Erkenntniß der Prinzipien der geistigen Welt in dem Bereich dieser selber, und die Geistes- wissenschaften bilden ein in sich selbständiges System.
Fand ich mich in solchen Punkten vielfach in Uebereinstimmung mit der erkenntnißtheoretischen Schule von Locke, Hume und Kant, so mußte ich doch eben den Zusammenhang der Thatsachen des Bewußtseins, in dem wir gemeinsam das ganze Fundament der Philosophie erkennen, anders fassen, als es diese Schule gethan hat. Wenn man von wenigen und nicht zur wissenschaftlichen Ausbil- dung gelangten Ansätzen, wie denen Herder's und Wilhelm von Humboldt's absieht, so hat die bisherige Erkenntnißtheorie, die empiristische wie die Kant's, die Erfahrung und die Erkenntniß aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Thatbestand erklärt. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruirten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der ver- dünnte Saft von Vernunft als bloßer Denkthätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannichfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntniß und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zu Grunde zu legen, ob die Erkenntniß gleich diese ihre Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorstellen und Denken zu weben scheint. Die Methode des folgenden Versuchs ist daher diese: jeden Bestandtheil des gegenwärtigen abstrakten, wissen- schaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menschennatur, wie
Vorrede.
mir weiter, daß die Selbſtändigkeit der Geiſteswiſſenſchaften eben von dieſem Standpunkte aus eine Begründung findet, wie die hiſtoriſche Schule ſie bedarf. Denn auf ihm erweiſt ſich unſer Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, den eine uns ver- borgene Wirklichkeit wirft, dagegen Realität wie ſie iſt beſitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Thatſachen des Bewußtſeins. Die Analyſis dieſer Thatſachen iſt das Centrum der Geiſteswiſſenſchaften, und ſo verbleibt, dem Geiſte der hiſto- riſchen Schule entſprechend, die Erkenntniß der Prinzipien der geiſtigen Welt in dem Bereich dieſer ſelber, und die Geiſtes- wiſſenſchaften bilden ein in ſich ſelbſtändiges Syſtem.
Fand ich mich in ſolchen Punkten vielfach in Uebereinſtimmung mit der erkenntnißtheoretiſchen Schule von Locke, Hume und Kant, ſo mußte ich doch eben den Zuſammenhang der Thatſachen des Bewußtſeins, in dem wir gemeinſam das ganze Fundament der Philoſophie erkennen, anders faſſen, als es dieſe Schule gethan hat. Wenn man von wenigen und nicht zur wiſſenſchaftlichen Ausbil- dung gelangten Anſätzen, wie denen Herder’s und Wilhelm von Humboldt’s abſieht, ſo hat die bisherige Erkenntnißtheorie, die empiriſtiſche wie die Kant’s, die Erfahrung und die Erkenntniß aus einem dem bloßen Vorſtellen angehörigen Thatbeſtand erklärt. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konſtruirten, rinnt nicht wirkliches Blut, ſondern der ver- dünnte Saft von Vernunft als bloßer Denkthätigkeit. Mich führte aber hiſtoriſche wie pſychologiſche Beſchäftigung mit dem ganzen Menſchen dahin, dieſen, in der Mannichfaltigkeit ſeiner Kräfte, dies wollend fühlend vorſtellende Weſen auch der Erklärung der Erkenntniß und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Subſtanz, Urſache) zu Grunde zu legen, ob die Erkenntniß gleich dieſe ihre Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorſtellen und Denken zu weben ſcheint. Die Methode des folgenden Verſuchs iſt daher dieſe: jeden Beſtandtheil des gegenwärtigen abſtrakten, wiſſen- ſchaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menſchennatur, wie
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[XVII/0020]
Vorrede.
mir weiter, daß die Selbſtändigkeit der Geiſteswiſſenſchaften eben
von dieſem Standpunkte aus eine Begründung findet, wie die
hiſtoriſche Schule ſie bedarf. Denn auf ihm erweiſt ſich unſer
Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, den eine uns ver-
borgene Wirklichkeit wirft, dagegen Realität wie ſie iſt beſitzen wir
nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Thatſachen des
Bewußtſeins. Die Analyſis dieſer Thatſachen iſt das Centrum
der Geiſteswiſſenſchaften, und ſo verbleibt, dem Geiſte der hiſto-
riſchen Schule entſprechend, die Erkenntniß der Prinzipien der
geiſtigen Welt in dem Bereich dieſer ſelber, und die Geiſtes-
wiſſenſchaften bilden ein in ſich ſelbſtändiges Syſtem.
Fand ich mich in ſolchen Punkten vielfach in Uebereinſtimmung
mit der erkenntnißtheoretiſchen Schule von Locke, Hume und Kant,
ſo mußte ich doch eben den Zuſammenhang der Thatſachen des
Bewußtſeins, in dem wir gemeinſam das ganze Fundament der
Philoſophie erkennen, anders faſſen, als es dieſe Schule gethan hat.
Wenn man von wenigen und nicht zur wiſſenſchaftlichen Ausbil-
dung gelangten Anſätzen, wie denen Herder’s und Wilhelm von
Humboldt’s abſieht, ſo hat die bisherige Erkenntnißtheorie, die
empiriſtiſche wie die Kant’s, die Erfahrung und die Erkenntniß
aus einem dem bloßen Vorſtellen angehörigen Thatbeſtand erklärt.
In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und
Kant konſtruirten, rinnt nicht wirkliches Blut, ſondern der ver-
dünnte Saft von Vernunft als bloßer Denkthätigkeit. Mich führte
aber hiſtoriſche wie pſychologiſche Beſchäftigung mit dem ganzen
Menſchen dahin, dieſen, in der Mannichfaltigkeit ſeiner Kräfte,
dies wollend fühlend vorſtellende Weſen auch der Erklärung der
Erkenntniß und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Subſtanz,
Urſache) zu Grunde zu legen, ob die Erkenntniß gleich dieſe ihre
Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorſtellen und
Denken zu weben ſcheint. Die Methode des folgenden Verſuchs iſt
daher dieſe: jeden Beſtandtheil des gegenwärtigen abſtrakten, wiſſen-
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. XVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/20>, abgerufen am 24.07.2024.
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