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Delbrück, Berthold: Die neueste Sprachforschung. Betrachtungen über Georg Curtius Schrift zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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lungen zusammen, und folglich gehören die Lautgesetze nicht
in die Lehre von der Gesetzmässigkeit der Naturvorgänge,
sondern in die Lehre von der Gesetzmässigkeit der schein-
bar willkürlichen menschlichen Handlungen" (Einl. S. 130).1)

Wo nun auch dieses letzte Kriterium für den Begriff
des Gesetzes, nämlich eine Mehrheit gleicher Einzelerschei-
nungen nicht vorhanden ist, kann man nicht mehr von
einem "Gesetze" reden. Völlig vereinzelte Vorgänge fallen
nicht unter den Begriff des Gesetzes2). Wenn also Curtius
fragt: "aus welchem Lautgesetz oder welcher Analogiebildung
könnte man das in gut attischen Inschriften überlieferte
emedimnon statt emimedimnon, amphoreus statt amphiphoreus
erklären" (S. 86), so erwidere ich, aus keinem Gesetz, denn
es ist ein vereinzelter Fall, und aus keiner Analogiewirkung,
aus demselben Grunde. Wir können in diesem Falle nur
sagen, dass wir an dem Uebergang von amphiphoreus in am-
phoreus
die allgemeine Tendenz zur Ersparung der Arbeit
erkennen können, diese Tendenz veranlasste einen Einzel-

1) Curtius sagt S. 12 Anm.: "wenn Delbrück doch wieder in dieser
Beziehung von Naturnothwendigkeit redet, so vermag ich darin den
ebenangeführten Einräumungen Paul's gegenüber einen Fortschritt nicht
zu erkennen." Ich weiss nicht, welche Stelle Curtius im Auge hat.
Sollte es die oben angeführte sein (Einl. S. 120), so würde ich den Aus-
druck aufrecht erhalten. Oder sollte es nicht gestattet sein, von psycho-
physischen Nothwendigkeiten zu reden? Vielleicht habe ich das Wort
noch an anderen Stellen gebraucht, dann aber jedenfalls nur in dem
Sinne wie Curtius selbst, der ja auch sagt, dass sich gerade in dem
Leben der Laute am sichersten feste Gesetze erkennen lassen, "die sich
beinahe mit der Consequenz von Naturkräften geltend machen" (Grund-
züge5 81).
2) Gegen diesen Satz darf die öfter gehörte richtige Behauptung,
dass an isolirten Wörtern sich das ursprüngliche Lautgesetz besser er-
kennen lasse, als an solchen, die mit anderen zu Reihen vereinigt und
die deshalb Associationsbildungen ausgesetzt sind, nicht angeführt
werden. Denn in einem solchen Falle nimmt man an, dass zuerst eine
Reihe gleicher Erscheinungen da war, und dass dann die Majorität der
Fälle vielleicht alle Fälle bis auf einen, durch Association verändert
sind.

lungen zusammen, und folglich gehören die Lautgesetze nicht
in die Lehre von der Gesetzmässigkeit der Naturvorgänge,
sondern in die Lehre von der Gesetzmässigkeit der schein-
bar willkürlichen menschlichen Handlungen« (Einl. S. 130).1)

Wo nun auch dieses letzte Kriterium für den Begriff
des Gesetzes, nämlich eine Mehrheit gleicher Einzelerschei-
nungen nicht vorhanden ist, kann man nicht mehr von
einem »Gesetze« reden. Völlig vereinzelte Vorgänge fallen
nicht unter den Begriff des Gesetzes2). Wenn also Curtius
fragt: »aus welchem Lautgesetz oder welcher Analogiebildung
könnte man das in gut attischen Inschriften überlieferte
ἡμέδιμνον statt ἡμιμέδιμνον, ἀμφορεύς statt ἀμφιφορεύς
erklären« (S. 86), so erwidere ich, aus keinem Gesetz, denn
es ist ein vereinzelter Fall, und aus keiner Analogiewirkung,
aus demselben Grunde. Wir können in diesem Falle nur
sagen, dass wir an dem Uebergang von ἀμφιφορεύς in ἀμ-
φορεύς
die allgemeine Tendenz zur Ersparung der Arbeit
erkennen können, diese Tendenz veranlasste einen Einzel-

1) Curtius sagt S. 12 Anm.: »wenn Delbrück doch wieder in dieser
Beziehung von Naturnothwendigkeit redet, so vermag ich darin den
ebenangeführten Einräumungen Paul's gegenüber einen Fortschritt nicht
zu erkennen.« Ich weiss nicht, welche Stelle Curtius im Auge hat.
Sollte es die oben angeführte sein (Einl. S. 120), so würde ich den Aus-
druck aufrecht erhalten. Oder sollte es nicht gestattet sein, von psycho-
physischen Nothwendigkeiten zu reden? Vielleicht habe ich das Wort
noch an anderen Stellen gebraucht, dann aber jedenfalls nur in dem
Sinne wie Curtius selbst, der ja auch sagt, dass sich gerade in dem
Leben der Laute am sichersten feste Gesetze erkennen lassen, »die sich
beinahe mit der Consequenz von Naturkräften geltend machen« (Grund-
züge⁵ 81).
2) Gegen diesen Satz darf die öfter gehörte richtige Behauptung,
dass an isolirten Wörtern sich das ursprüngliche Lautgesetz besser er-
kennen lasse, als an solchen, die mit anderen zu Reihen vereinigt und
die deshalb Associationsbildungen ausgesetzt sind, nicht angeführt
werden. Denn in einem solchen Falle nimmt man an, dass zuerst eine
Reihe gleicher Erscheinungen da war, und dass dann die Majorität der
Fälle vielleicht alle Fälle bis auf einen, durch Association verändert
sind.
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[18/0023] lungen zusammen, und folglich gehören die Lautgesetze nicht in die Lehre von der Gesetzmässigkeit der Naturvorgänge, sondern in die Lehre von der Gesetzmässigkeit der schein- bar willkürlichen menschlichen Handlungen« (Einl. S. 130). 1) Wo nun auch dieses letzte Kriterium für den Begriff des Gesetzes, nämlich eine Mehrheit gleicher Einzelerschei- nungen nicht vorhanden ist, kann man nicht mehr von einem »Gesetze« reden. Völlig vereinzelte Vorgänge fallen nicht unter den Begriff des Gesetzes 2). Wenn also Curtius fragt: »aus welchem Lautgesetz oder welcher Analogiebildung könnte man das in gut attischen Inschriften überlieferte ἡμέδιμνον statt ἡμιμέδιμνον, ἀμφορεύς statt ἀμφιφορεύς erklären« (S. 86), so erwidere ich, aus keinem Gesetz, denn es ist ein vereinzelter Fall, und aus keiner Analogiewirkung, aus demselben Grunde. Wir können in diesem Falle nur sagen, dass wir an dem Uebergang von ἀμφιφορεύς in ἀμ- φορεύς die allgemeine Tendenz zur Ersparung der Arbeit erkennen können, diese Tendenz veranlasste einen Einzel- 1) Curtius sagt S. 12 Anm.: »wenn Delbrück doch wieder in dieser Beziehung von Naturnothwendigkeit redet, so vermag ich darin den ebenangeführten Einräumungen Paul's gegenüber einen Fortschritt nicht zu erkennen.« Ich weiss nicht, welche Stelle Curtius im Auge hat. Sollte es die oben angeführte sein (Einl. S. 120), so würde ich den Aus- druck aufrecht erhalten. Oder sollte es nicht gestattet sein, von psycho- physischen Nothwendigkeiten zu reden? Vielleicht habe ich das Wort noch an anderen Stellen gebraucht, dann aber jedenfalls nur in dem Sinne wie Curtius selbst, der ja auch sagt, dass sich gerade in dem Leben der Laute am sichersten feste Gesetze erkennen lassen, »die sich beinahe mit der Consequenz von Naturkräften geltend machen« (Grund- züge⁵ 81). 2) Gegen diesen Satz darf die öfter gehörte richtige Behauptung, dass an isolirten Wörtern sich das ursprüngliche Lautgesetz besser er- kennen lasse, als an solchen, die mit anderen zu Reihen vereinigt und die deshalb Associationsbildungen ausgesetzt sind, nicht angeführt werden. Denn in einem solchen Falle nimmt man an, dass zuerst eine Reihe gleicher Erscheinungen da war, und dass dann die Majorität der Fälle vielleicht alle Fälle bis auf einen, durch Association verändert sind.

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Zitationshilfe: Delbrück, Berthold: Die neueste Sprachforschung. Betrachtungen über Georg Curtius Schrift zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/delbrueck_sprachforschung_1885/23>, abgerufen am 28.03.2024.