Zurzeit beschäftigt uns am meisten die Erforschung der inneren Kunstgesetze und die aus ihnen hervorgehende Stilentwicklung. Diese Betrachtungsweise verleugnet nicht das geschichtliche Moment, das in dem Begriff der Entwick- lung schon gegeben ist; aber sie beschränkt es. Ihr erscheint die Kunst als eine autonome Macht. Sie fragt wenig, zu wenig nach den anderen geistigen Mächten, in deren Umgebung die Kunst ihr geschichtliches Leben führt, und von denen sie mitbedingt wird; sie fragt noch weniger nach den materiellen Voraussetzungen. Sie gibt eine Geschichte des künstlerischen Denkens, nicht eine vollständige Darlegung des wirklichen Verlaufes in seinen ver- wickelten Kausalzusammenhängen. Liegt nun einmal der Schwer- punkt des Interesses nach der eben angegebenen Seite, dann wird es ganz begreiflich, daß die deutsche Kunstgeschichte als Ganzes keine besondere Anziehungskraft ausübt. Was die französische Kunst des hohen Mittelalters, die italienische der Renaissance dem Beobachter darbieten, die allein auf ihrer eigenen Achse ruhende Abwandlung eines bestimmten Komplexes von Problemen, in sich geschlossen, vom Auslande weder hemmend noch fördernd beeinflußt, etwas dem Ähnliches hat die deutsche Kunstgeschichte nicht zu geben. Angenommen, über die Kunst Italiens wären alle historischen Nachrichten verloren gegangen, so könnten wir doch allein aus den Denkmälern den ganzen Verlauf von Giotto bis auf Bernini im wesentlichen richtig rekonstruieren. An- gesichts der deutschen Kunst, im gleichen Falle, würde uns wer weiß wie oft der Faden abreißen. Ihre Bewegungszentren liegen eben zu einem nicht geringen Teil außerhalb ihres eigenen Gebietes. Ihr 13. Jahrhundert ist nicht denkbar ohne die französische, ihr 15. nicht ohne die niederländische, ihr 16. nicht ohne die italienische Kunst. Und mit diesen Ein- wirkungen durchkreuzen sich außerkünstlerische Gewalten der eigenen Volksgeschichte. So entstehen, ohne von innen heraus motiviert zu sein, Hebungen und Senkungen, Abbiegungen, Brüche, irrationale Erscheinungen an allen Enden. Der Nur- kunsthistoriker hat ein Recht zu sagen: was ich hier sehe, ist keine Einheit; mich interessieren die einzelnen Abschnitte, aber
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Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
Zurzeit beschäftigt uns am meisten die Erforschung der inneren Kunstgesetze und die aus ihnen hervorgehende Stilentwicklung. Diese Betrachtungsweise verleugnet nicht das geschichtliche Moment, das in dem Begriff der Entwick- lung schon gegeben ist; aber sie beschränkt es. Ihr erscheint die Kunst als eine autonome Macht. Sie fragt wenig, zu wenig nach den anderen geistigen Mächten, in deren Umgebung die Kunst ihr geschichtliches Leben führt, und von denen sie mitbedingt wird; sie fragt noch weniger nach den materiellen Voraussetzungen. Sie gibt eine Geschichte des künstlerischen Denkens, nicht eine vollständige Darlegung des wirklichen Verlaufes in seinen ver- wickelten Kausalzusammenhängen. Liegt nun einmal der Schwer- punkt des Interesses nach der eben angegebenen Seite, dann wird es ganz begreiflich, daß die deutsche Kunstgeschichte als Ganzes keine besondere Anziehungskraft ausübt. Was die französische Kunst des hohen Mittelalters, die italienische der Renaissance dem Beobachter darbieten, die allein auf ihrer eigenen Achse ruhende Abwandlung eines bestimmten Komplexes von Problemen, in sich geschlossen, vom Auslande weder hemmend noch fördernd beeinflußt, etwas dem Ähnliches hat die deutsche Kunstgeschichte nicht zu geben. Angenommen, über die Kunst Italiens wären alle historischen Nachrichten verloren gegangen, so könnten wir doch allein aus den Denkmälern den ganzen Verlauf von Giotto bis auf Bernini im wesentlichen richtig rekonstruieren. An- gesichts der deutschen Kunst, im gleichen Falle, würde uns wer weiß wie oft der Faden abreißen. Ihre Bewegungszentren liegen eben zu einem nicht geringen Teil außerhalb ihres eigenen Gebietes. Ihr 13. Jahrhundert ist nicht denkbar ohne die französische, ihr 15. nicht ohne die niederländische, ihr 16. nicht ohne die italienische Kunst. Und mit diesen Ein- wirkungen durchkreuzen sich außerkünstlerische Gewalten der eigenen Volksgeschichte. So entstehen, ohne von innen heraus motiviert zu sein, Hebungen und Senkungen, Abbiegungen, Brüche, irrationale Erscheinungen an allen Enden. Der Nur- kunsthistoriker hat ein Recht zu sagen: was ich hier sehe, ist keine Einheit; mich interessieren die einzelnen Abschnitte, aber
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Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
Zurzeit beschäftigt uns am meisten die Erforschung der
inneren Kunstgesetze und die aus ihnen hervorgehende
Stilentwicklung. Diese Betrachtungsweise verleugnet
nicht das geschichtliche Moment, das in dem Begriff der Entwick-
lung schon gegeben ist; aber sie beschränkt es. Ihr erscheint die
Kunst als eine autonome Macht. Sie fragt wenig, zu wenig nach
den anderen geistigen Mächten, in deren Umgebung die Kunst
ihr geschichtliches Leben führt, und von denen sie mitbedingt
wird; sie fragt noch weniger nach den materiellen Voraussetzungen.
Sie gibt eine Geschichte des künstlerischen Denkens, nicht eine
vollständige Darlegung des wirklichen Verlaufes in seinen ver-
wickelten Kausalzusammenhängen. Liegt nun einmal der Schwer-
punkt des Interesses nach der eben angegebenen Seite, dann wird
es ganz begreiflich, daß die deutsche Kunstgeschichte als Ganzes
keine besondere Anziehungskraft ausübt. Was die französische
Kunst des hohen Mittelalters, die italienische der Renaissance
dem Beobachter darbieten, die allein auf ihrer eigenen Achse
ruhende Abwandlung eines bestimmten Komplexes von Problemen,
in sich geschlossen, vom Auslande weder hemmend noch fördernd
beeinflußt, etwas dem Ähnliches hat die deutsche Kunstgeschichte
nicht zu geben. Angenommen, über die Kunst Italiens wären
alle historischen Nachrichten verloren gegangen, so könnten wir
doch allein aus den Denkmälern den ganzen Verlauf von Giotto
bis auf Bernini im wesentlichen richtig rekonstruieren. An-
gesichts der deutschen Kunst, im gleichen Falle, würde uns
wer weiß wie oft der Faden abreißen. Ihre Bewegungszentren
liegen eben zu einem nicht geringen Teil außerhalb ihres
eigenen Gebietes. Ihr 13. Jahrhundert ist nicht denkbar ohne
die französische, ihr 15. nicht ohne die niederländische, ihr
16. nicht ohne die italienische Kunst. Und mit diesen Ein-
wirkungen durchkreuzen sich außerkünstlerische Gewalten der
eigenen Volksgeschichte. So entstehen, ohne von innen heraus
motiviert zu sein, Hebungen und Senkungen, Abbiegungen,
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/81>, abgerufen am 24.11.2024.
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