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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
und es wäre Vermessenheit gewesen, daran zu rütteln. Mit großen
Mängeln der Form verbindet sich Stärke des Ausdrucks. Wenn
auch im höchsten Grade gebunden, ist diese Kunst nicht unwahr
und vermag auch heute noch zu wirken. In welchem Umfange
-- es überrascht uns -- schon in der Karolingischen Zeit die Wand-
malerei geübt wurde, lassen die in einigen Klöstern angelegten
Sammlungen versifizierter Unterschriften (tituli) erraten. Nichts
davon hat sich erhalten. Das wichtigste Denkmal der Jahrtau-
sendwende, die Wandmalerei in S. Georg auf Reichenau, zeigt das
Prinzip unverändert. Reichlicher sind die Überreste aus dem
12. und 13. Jahrhundert. Auch in ihnen ist die Einzelform völlig
konventionell, aber geschmeidiger und ausdrucksvoller; besonders
die Gewandung, die ja in ihrem Wesen etwas Tektonisches hat,
nimmt einen großartigen, frisch belebten Schwung; die Gebärden-
sprache erreicht seelische Wahrheit. Den Höhepunkt der Gattung
bezeichnen die sächsischen und rheinischen Wandgemälde dieser
Zeit. Aus Frankreich hat sich zu wenig erhalten, um einen Ver-
gleich zu gestatten.

Zahlreich haben sich die Denkmäler der Buchmalerei und
unter ihnen gewiß viele der besten Stücke erhalten. Wir dürfen
uns durch diese beiden ihnen günstigen Umstände nicht zur Über-
schätzung ihrer relativen Bedeutung verleiten lassen. Ihrem
Zwecke nach steht sie dem Kunstgewerbe nahe. Schönschreiber
nehmen es sich unbefangen heraus, gelegentlich auch Bilder ab-
zuschreiben, so daß sich hier wohl mehr Dilettantismus breit-
macht, als es in der Wandmalerei möglich gewesen sein kann.
Das Stilgesetz ist in dem weiteren Sinne, als es im Kunstgewerbe
überhaupt regiert, ebenfalls ein architektonisches. Man nehme
als Beispiel, daß Pferde beliebig durcheinander rot, blau und
grün gegeben werden, bloß weil an ihrer Stelle diese Farbenflecke
erwünscht waren. Im Vergleiche zur Wandmalerei gewährt die
Buchmalerei dank ihrer leichteren Technik der Erfindung mehr
Spielraum, und wenn da die erlernten Formen im Stiche lassen,
wird wohl ein kecker Griff in die Wirklichkeit gewagt; das er-
schrockene Straucheln vor dem Angesicht der Natur, das dann
regelmäßig eintritt, zeigt am besten, wieviel die feste Schulung

Die Kunst des Mittelalters
und es wäre Vermessenheit gewesen, daran zu rütteln. Mit großen
Mängeln der Form verbindet sich Stärke des Ausdrucks. Wenn
auch im höchsten Grade gebunden, ist diese Kunst nicht unwahr
und vermag auch heute noch zu wirken. In welchem Umfange
— es überrascht uns — schon in der Karolingischen Zeit die Wand-
malerei geübt wurde, lassen die in einigen Klöstern angelegten
Sammlungen versifizierter Unterschriften (tituli) erraten. Nichts
davon hat sich erhalten. Das wichtigste Denkmal der Jahrtau-
sendwende, die Wandmalerei in S. Georg auf Reichenau, zeigt das
Prinzip unverändert. Reichlicher sind die Überreste aus dem
12. und 13. Jahrhundert. Auch in ihnen ist die Einzelform völlig
konventionell, aber geschmeidiger und ausdrucksvoller; besonders
die Gewandung, die ja in ihrem Wesen etwas Tektonisches hat,
nimmt einen großartigen, frisch belebten Schwung; die Gebärden-
sprache erreicht seelische Wahrheit. Den Höhepunkt der Gattung
bezeichnen die sächsischen und rheinischen Wandgemälde dieser
Zeit. Aus Frankreich hat sich zu wenig erhalten, um einen Ver-
gleich zu gestatten.

Zahlreich haben sich die Denkmäler der Buchmalerei und
unter ihnen gewiß viele der besten Stücke erhalten. Wir dürfen
uns durch diese beiden ihnen günstigen Umstände nicht zur Über-
schätzung ihrer relativen Bedeutung verleiten lassen. Ihrem
Zwecke nach steht sie dem Kunstgewerbe nahe. Schönschreiber
nehmen es sich unbefangen heraus, gelegentlich auch Bilder ab-
zuschreiben, so daß sich hier wohl mehr Dilettantismus breit-
macht, als es in der Wandmalerei möglich gewesen sein kann.
Das Stilgesetz ist in dem weiteren Sinne, als es im Kunstgewerbe
überhaupt regiert, ebenfalls ein architektonisches. Man nehme
als Beispiel, daß Pferde beliebig durcheinander rot, blau und
grün gegeben werden, bloß weil an ihrer Stelle diese Farbenflecke
erwünscht waren. Im Vergleiche zur Wandmalerei gewährt die
Buchmalerei dank ihrer leichteren Technik der Erfindung mehr
Spielraum, und wenn da die erlernten Formen im Stiche lassen,
wird wohl ein kecker Griff in die Wirklichkeit gewagt; das er-
schrockene Straucheln vor dem Angesicht der Natur, das dann
regelmäßig eintritt, zeigt am besten, wieviel die feste Schulung

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[39/0053] Die Kunst des Mittelalters und es wäre Vermessenheit gewesen, daran zu rütteln. Mit großen Mängeln der Form verbindet sich Stärke des Ausdrucks. Wenn auch im höchsten Grade gebunden, ist diese Kunst nicht unwahr und vermag auch heute noch zu wirken. In welchem Umfange — es überrascht uns — schon in der Karolingischen Zeit die Wand- malerei geübt wurde, lassen die in einigen Klöstern angelegten Sammlungen versifizierter Unterschriften (tituli) erraten. Nichts davon hat sich erhalten. Das wichtigste Denkmal der Jahrtau- sendwende, die Wandmalerei in S. Georg auf Reichenau, zeigt das Prinzip unverändert. Reichlicher sind die Überreste aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Auch in ihnen ist die Einzelform völlig konventionell, aber geschmeidiger und ausdrucksvoller; besonders die Gewandung, die ja in ihrem Wesen etwas Tektonisches hat, nimmt einen großartigen, frisch belebten Schwung; die Gebärden- sprache erreicht seelische Wahrheit. Den Höhepunkt der Gattung bezeichnen die sächsischen und rheinischen Wandgemälde dieser Zeit. Aus Frankreich hat sich zu wenig erhalten, um einen Ver- gleich zu gestatten. Zahlreich haben sich die Denkmäler der Buchmalerei und unter ihnen gewiß viele der besten Stücke erhalten. Wir dürfen uns durch diese beiden ihnen günstigen Umstände nicht zur Über- schätzung ihrer relativen Bedeutung verleiten lassen. Ihrem Zwecke nach steht sie dem Kunstgewerbe nahe. Schönschreiber nehmen es sich unbefangen heraus, gelegentlich auch Bilder ab- zuschreiben, so daß sich hier wohl mehr Dilettantismus breit- macht, als es in der Wandmalerei möglich gewesen sein kann. Das Stilgesetz ist in dem weiteren Sinne, als es im Kunstgewerbe überhaupt regiert, ebenfalls ein architektonisches. Man nehme als Beispiel, daß Pferde beliebig durcheinander rot, blau und grün gegeben werden, bloß weil an ihrer Stelle diese Farbenflecke erwünscht waren. Im Vergleiche zur Wandmalerei gewährt die Buchmalerei dank ihrer leichteren Technik der Erfindung mehr Spielraum, und wenn da die erlernten Formen im Stiche lassen, wird wohl ein kecker Griff in die Wirklichkeit gewagt; das er- schrockene Straucheln vor dem Angesicht der Natur, das dann regelmäßig eintritt, zeigt am besten, wieviel die feste Schulung

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/53>, abgerufen am 22.11.2024.