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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
Zugleich steigern sich die Höhenmaße sowohl relativ als absolut.
Es kommen die ganz großen Fenster und in ihnen die Maßwerk-
gliederungen auf. Das Strebesystem erhält unumwunden die
Herrschaft über die Außenansicht. Der Grundriß gewinnt eine
Normalgestalt von großer Konzinnität: dreischiffiges Querhaus,
fünfschiffiger Chor mit Umgang und Kapellenkranz, fast eine
Kirche für sich, glänzender, perspektivischer Reize voll. Dagegen
Reduzierung der Türme auf die zwei an der Fassade. Am groß-
artigsten und reinsten ist das Ideal in den drei Musterkathedralen
von Chartres (seit 1195), Reims (seit 1210), Amiens (seit 1218)
ausgesprochen. Eine interessante, aber keine Nachfolge findende
Variation in den Kathedralen von Bourges und le Mans. Am
weitesten vorgeschritten, mit schärfster Zuspitzung des Gedankens,
schon etwas spitzfindig und etwas virtuosenhaft in den Quer-
schiffsfassaden der Notre-Dame in Paris und im Chor der Kathe-
drale von Paris.

Die dritte Epoche bringt die Resultate der zweiten in
schulmäßig anwendbare Regeln, die, mit gelehrtem Hochmut
zur Schau gestellt, über den wirklichen Zweck hinausgetrieben
werden. Es ist mehr Verstandesarbeit als Phantasieschöpfung.
Die Bautätigkeit ist auch quantitativ im Rückgang. Erst in
dieser Epoche werden die Provinzen des Südens und des äußersten
Westens für die Gotik gewonnen.

Betrachten wir die Ausbreitung über das übrige Europa.

Nicht zu vergessen ist hierbei, daß dem Siege der Gotik ein
merkwürdiges Oszillieren der Entwicklungstendenz vorausge-
gangen war. In Toskana und Unteritalien, wie in der Provence
und in Burgund, doch auch in einigen Gegenden Deutschlands,
hatten sich die Blicke der Antike zugewendet, war eine Proto-
renaissancebewegung in Gang gekommen. Daß sie zurückgedrängt
wurde, hat sehr komplizierte Ursachen. Jedenfalls beruhte der
Sieg der Gotik nicht auf ihren künstlerischen Eigenschaften allein,
er hängt zusammen mit dem Übergewicht, das damals auch auf
vielen anderen Gebieten die französische Kultur sich errang.

Es ist sicher, daß der Übergang vom romanischen zum goti-
schen Stil nirgends spontan eingetreten ist, überall nur durch

Die Kunst des Mittelalters
Zugleich steigern sich die Höhenmaße sowohl relativ als absolut.
Es kommen die ganz großen Fenster und in ihnen die Maßwerk-
gliederungen auf. Das Strebesystem erhält unumwunden die
Herrschaft über die Außenansicht. Der Grundriß gewinnt eine
Normalgestalt von großer Konzinnität: dreischiffiges Querhaus,
fünfschiffiger Chor mit Umgang und Kapellenkranz, fast eine
Kirche für sich, glänzender, perspektivischer Reize voll. Dagegen
Reduzierung der Türme auf die zwei an der Fassade. Am groß-
artigsten und reinsten ist das Ideal in den drei Musterkathedralen
von Chartres (seit 1195), Reims (seit 1210), Amiens (seit 1218)
ausgesprochen. Eine interessante, aber keine Nachfolge findende
Variation in den Kathedralen von Bourges und le Mans. Am
weitesten vorgeschritten, mit schärfster Zuspitzung des Gedankens,
schon etwas spitzfindig und etwas virtuosenhaft in den Quer-
schiffsfassaden der Notre-Dame in Paris und im Chor der Kathe-
drale von Paris.

Die dritte Epoche bringt die Resultate der zweiten in
schulmäßig anwendbare Regeln, die, mit gelehrtem Hochmut
zur Schau gestellt, über den wirklichen Zweck hinausgetrieben
werden. Es ist mehr Verstandesarbeit als Phantasieschöpfung.
Die Bautätigkeit ist auch quantitativ im Rückgang. Erst in
dieser Epoche werden die Provinzen des Südens und des äußersten
Westens für die Gotik gewonnen.

Betrachten wir die Ausbreitung über das übrige Europa.

Nicht zu vergessen ist hierbei, daß dem Siege der Gotik ein
merkwürdiges Oszillieren der Entwicklungstendenz vorausge-
gangen war. In Toskana und Unteritalien, wie in der Provence
und in Burgund, doch auch in einigen Gegenden Deutschlands,
hatten sich die Blicke der Antike zugewendet, war eine Proto-
renaissancebewegung in Gang gekommen. Daß sie zurückgedrängt
wurde, hat sehr komplizierte Ursachen. Jedenfalls beruhte der
Sieg der Gotik nicht auf ihren künstlerischen Eigenschaften allein,
er hängt zusammen mit dem Übergewicht, das damals auch auf
vielen anderen Gebieten die französische Kultur sich errang.

Es ist sicher, daß der Übergang vom romanischen zum goti-
schen Stil nirgends spontan eingetreten ist, überall nur durch

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[27/0041] Die Kunst des Mittelalters Zugleich steigern sich die Höhenmaße sowohl relativ als absolut. Es kommen die ganz großen Fenster und in ihnen die Maßwerk- gliederungen auf. Das Strebesystem erhält unumwunden die Herrschaft über die Außenansicht. Der Grundriß gewinnt eine Normalgestalt von großer Konzinnität: dreischiffiges Querhaus, fünfschiffiger Chor mit Umgang und Kapellenkranz, fast eine Kirche für sich, glänzender, perspektivischer Reize voll. Dagegen Reduzierung der Türme auf die zwei an der Fassade. Am groß- artigsten und reinsten ist das Ideal in den drei Musterkathedralen von Chartres (seit 1195), Reims (seit 1210), Amiens (seit 1218) ausgesprochen. Eine interessante, aber keine Nachfolge findende Variation in den Kathedralen von Bourges und le Mans. Am weitesten vorgeschritten, mit schärfster Zuspitzung des Gedankens, schon etwas spitzfindig und etwas virtuosenhaft in den Quer- schiffsfassaden der Notre-Dame in Paris und im Chor der Kathe- drale von Paris. Die dritte Epoche bringt die Resultate der zweiten in schulmäßig anwendbare Regeln, die, mit gelehrtem Hochmut zur Schau gestellt, über den wirklichen Zweck hinausgetrieben werden. Es ist mehr Verstandesarbeit als Phantasieschöpfung. Die Bautätigkeit ist auch quantitativ im Rückgang. Erst in dieser Epoche werden die Provinzen des Südens und des äußersten Westens für die Gotik gewonnen. Betrachten wir die Ausbreitung über das übrige Europa. Nicht zu vergessen ist hierbei, daß dem Siege der Gotik ein merkwürdiges Oszillieren der Entwicklungstendenz vorausge- gangen war. In Toskana und Unteritalien, wie in der Provence und in Burgund, doch auch in einigen Gegenden Deutschlands, hatten sich die Blicke der Antike zugewendet, war eine Proto- renaissancebewegung in Gang gekommen. Daß sie zurückgedrängt wurde, hat sehr komplizierte Ursachen. Jedenfalls beruhte der Sieg der Gotik nicht auf ihren künstlerischen Eigenschaften allein, er hängt zusammen mit dem Übergewicht, das damals auch auf vielen anderen Gebieten die französische Kultur sich errang. Es ist sicher, daß der Übergang vom romanischen zum goti- schen Stil nirgends spontan eingetreten ist, überall nur durch

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/41>, abgerufen am 22.11.2024.