dreimal so groß ist als die aller deutschen Dome zusammenge- nommen) neu gebaut. Nur diese ungeheure Betriebsamkeit in dichter räumlicher Nähe erklärt die rapide Abwicklung, die durch keine Nebengedanken sich ablenken ließ, die mit unaufhaltsamer Konsequenz die vorgezeichnete Linie bis zum Ziel verfolgte. Angenommen, es hätte gleich zu Anfang das ganze System in einem einzigen Kopfe fertig dagelegen, während es doch die stufenweise sich aufbauende Leistung vieler ist, es hätte nicht prompter und nicht einheitlicher in die Erscheinung treten können.
Um den Weg von den ersten klargedachten Äußerungen bis zum Gipfel zurückzulegen, braucht der gotische Stil, wie gesagt, wenig mehr als 100 Jahre. Der jenseits des Gipfels liegende zweite Teil ist dreimal so lang. Jeder dieser Hauptabschnitte kann noch einmal durch zwei geteilt werden, wodurch wir folgende vier Phasen erhalten: Frühzeit 1140 - 1200; klassische Vollendung 1200 - 1270; doktrinäres Beharren 1270 - 1400; Auflösung und letzte Verteidigung gegen neue Kräfte 1400 - 1550. Die letzte Phase liegt, weltgeschichtlich betrachtet, schon nicht mehr im Rahmen des Mittelalters.
Beginnen wir die Schilderung der Frühgotik mit dem Grundriß, wie üblich, so zeigt sich, daß die neuen Bestrebungen mit diesem sich noch nicht beschäftigten; er bleibt schwankend; auffallend oft wird die auf dem Wege über die südlichen Nieder- lande aus Köln eingewanderte Kleeblattanlage gewählt; reiche, noch ganz romanisch gedachte Turmgruppierung bleibt beliebt. Das Spe- zifische ist das System des Aufbaues. Das Prinzip der Zerlegung ist vollständig durchgeführt, aber insofern doch mit Vorsicht, als die Intervalle sowohl in wagerechter als in senkrechter Richtung kurz genommen werden, d. h. die Pfeiler (sie sind rund gestaltet) stehen dicht, und der Aufbau ist in vier Glieder geteilt: Erd- geschoßarkaden, Empore, Triforium, Lichtgaden. Den vertikalen Linienzug durchschneidet somit wiederholt ein horizontaler. Die Einzelbildung ist kräftig, der romanischen noch geistig verwandt. Beispiele: die Kathedralen von Paris, Sens, Noyon, Laon.
Der klassische Stil vereinfacht. Das Emporengeschoß wird ausgeschaltet, der Aufbau auf den Dreiklang gestimmt.
Die Kunst des Mittelalters
dreimal so groß ist als die aller deutschen Dome zusammenge- nommen) neu gebaut. Nur diese ungeheure Betriebsamkeit in dichter räumlicher Nähe erklärt die rapide Abwicklung, die durch keine Nebengedanken sich ablenken ließ, die mit unaufhaltsamer Konsequenz die vorgezeichnete Linie bis zum Ziel verfolgte. Angenommen, es hätte gleich zu Anfang das ganze System in einem einzigen Kopfe fertig dagelegen, während es doch die stufenweise sich aufbauende Leistung vieler ist, es hätte nicht prompter und nicht einheitlicher in die Erscheinung treten können.
Um den Weg von den ersten klargedachten Äußerungen bis zum Gipfel zurückzulegen, braucht der gotische Stil, wie gesagt, wenig mehr als 100 Jahre. Der jenseits des Gipfels liegende zweite Teil ist dreimal so lang. Jeder dieser Hauptabschnitte kann noch einmal durch zwei geteilt werden, wodurch wir folgende vier Phasen erhalten: Frühzeit 1140 - 1200; klassische Vollendung 1200 - 1270; doktrinäres Beharren 1270 - 1400; Auflösung und letzte Verteidigung gegen neue Kräfte 1400 - 1550. Die letzte Phase liegt, weltgeschichtlich betrachtet, schon nicht mehr im Rahmen des Mittelalters.
Beginnen wir die Schilderung der Frühgotik mit dem Grundriß, wie üblich, so zeigt sich, daß die neuen Bestrebungen mit diesem sich noch nicht beschäftigten; er bleibt schwankend; auffallend oft wird die auf dem Wege über die südlichen Nieder- lande aus Köln eingewanderte Kleeblattanlage gewählt; reiche, noch ganz romanisch gedachte Turmgruppierung bleibt beliebt. Das Spe- zifische ist das System des Aufbaues. Das Prinzip der Zerlegung ist vollständig durchgeführt, aber insofern doch mit Vorsicht, als die Intervalle sowohl in wagerechter als in senkrechter Richtung kurz genommen werden, d. h. die Pfeiler (sie sind rund gestaltet) stehen dicht, und der Aufbau ist in vier Glieder geteilt: Erd- geschoßarkaden, Empore, Triforium, Lichtgaden. Den vertikalen Linienzug durchschneidet somit wiederholt ein horizontaler. Die Einzelbildung ist kräftig, der romanischen noch geistig verwandt. Beispiele: die Kathedralen von Paris, Sens, Noyon, Laon.
Der klassische Stil vereinfacht. Das Emporengeschoß wird ausgeschaltet, der Aufbau auf den Dreiklang gestimmt.
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Die Kunst des Mittelalters
dreimal so groß ist als die aller deutschen Dome zusammenge-
nommen) neu gebaut. Nur diese ungeheure Betriebsamkeit in
dichter räumlicher Nähe erklärt die rapide Abwicklung, die durch
keine Nebengedanken sich ablenken ließ, die mit unaufhaltsamer
Konsequenz die vorgezeichnete Linie bis zum Ziel verfolgte.
Angenommen, es hätte gleich zu Anfang das ganze System in
einem einzigen Kopfe fertig dagelegen, während es doch die
stufenweise sich aufbauende Leistung vieler ist, es hätte nicht
prompter und nicht einheitlicher in die Erscheinung treten können.
Um den Weg von den ersten klargedachten Äußerungen bis
zum Gipfel zurückzulegen, braucht der gotische Stil, wie gesagt,
wenig mehr als 100 Jahre. Der jenseits des Gipfels liegende zweite
Teil ist dreimal so lang. Jeder dieser Hauptabschnitte kann noch
einmal durch zwei geteilt werden, wodurch wir folgende vier
Phasen erhalten: Frühzeit 1140 - 1200; klassische Vollendung
1200 - 1270; doktrinäres Beharren 1270 - 1400; Auflösung und
letzte Verteidigung gegen neue Kräfte 1400 - 1550. Die letzte
Phase liegt, weltgeschichtlich betrachtet, schon nicht mehr im
Rahmen des Mittelalters.
Beginnen wir die Schilderung der Frühgotik mit dem
Grundriß, wie üblich, so zeigt sich, daß die neuen Bestrebungen
mit diesem sich noch nicht beschäftigten; er bleibt schwankend;
auffallend oft wird die auf dem Wege über die südlichen Nieder-
lande aus Köln eingewanderte Kleeblattanlage gewählt; reiche, noch
ganz romanisch gedachte Turmgruppierung bleibt beliebt. Das Spe-
zifische ist das System des Aufbaues. Das Prinzip der Zerlegung
ist vollständig durchgeführt, aber insofern doch mit Vorsicht, als
die Intervalle sowohl in wagerechter als in senkrechter Richtung
kurz genommen werden, d. h. die Pfeiler (sie sind rund gestaltet)
stehen dicht, und der Aufbau ist in vier Glieder geteilt: Erd-
geschoßarkaden, Empore, Triforium, Lichtgaden. Den vertikalen
Linienzug durchschneidet somit wiederholt ein horizontaler. Die
Einzelbildung ist kräftig, der romanischen noch geistig verwandt.
Beispiele: die Kathedralen von Paris, Sens, Noyon, Laon.
Der klassische Stil vereinfacht. Das Emporengeschoß
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/40>, abgerufen am 16.02.2025.
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