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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Denkmalpflege und Museen
lichen Ort betrachten, aber wir sehen sie deshalb nicht richtiger;
meist schon nicht mit unserem physischen Auge richtiger, nie mit
unserem geistigen; denn es fehlen alle Erreger der so notwendigen
Phantasieassoziationen, es fehlen die unwägbaren Verbindungs-
werte. Nur wenige Werke von allerstärkster individueller Potenz
behalten wohl überall etwas Zwingendes; eine Sixtinische Madonna
macht, wo sie auch sei, ihre Umgebung vergessen. Aber von wie-
vielen Kunstwerken kann man das sagen? Wenn z. B. aus einem
schwäbischen Kloster ein Grabstein in ein norddeutsches Museum
geschleppt würde, ein Grabstein, dessen absoluter Kunstwert nur
mäßig ist, der aber durch die mit ihm verbundenen örtlichen
Erinnerungen voll Lebens noch ist -- was bleibt von ihm übrig?
Ich brauche in dieser Versammlung den Gedanken nicht weiter
auszuführen, denn ich bin sicher, ohne Widerspruch zu bleiben,
wenn ich sage: jede Ortsentfremdung eines Kunstwerks bedeutet
einen Wertverlust. Dieselbe wird je nach der Art des Werkes
dem Grade nach sehr verschieden sein; aber etwas Wertver-
lust ist immer da. Und oft genug heißt es ganz einfach:
"Zum Teufel ist der Spiritus,
Das Phlegma ist geblieben."

Meine Herren! Die hinter uns liegenden zwölf Tage für Denk-
malpflege haben ein deutliches Zeugnis dafür abgelegt, daß in
unseren Anschauungen über das Verhältnis der jeweiligen Gegen-
wart zur künstlerischen Hinterlassenschaft der Vergangenheit ein
tiefgründiger Wandel sich vollzogen hat. Wir messen den Wert
eines alten Kunstwerkes nicht mehr allein nach der Höhe des
Vergnügens, das uns aus ihm quillt; wir haben erkannt, daß es
außer seinen ästhetischen und außer seinen antiquarischen Eigen-
schaften noch andere besitzt; wir fassen sie in das Wort Denk-
mal
zusammen. Ein einfacher Satz, der aber sehr weitgehende
Konsequenzen hat. Wie stehen unsere Museen dazu? Sie leben
noch sehr im Bann der alten Anschauung, die großen, führenden,
bewunderten am meisten. Sie betrachten noch immer das ganze
Reich der alten Kunst als ein freies Gut, das jedesmal dem gehört,
der den Verstand und die Energie hat, es in Besitz zu nehmen.
Und das Publikum lebt noch immer in der Vorstellung, das Ideal

Denkmalpflege und Museen
lichen Ort betrachten, aber wir sehen sie deshalb nicht richtiger;
meist schon nicht mit unserem physischen Auge richtiger, nie mit
unserem geistigen; denn es fehlen alle Erreger der so notwendigen
Phantasieassoziationen, es fehlen die unwägbaren Verbindungs-
werte. Nur wenige Werke von allerstärkster individueller Potenz
behalten wohl überall etwas Zwingendes; eine Sixtinische Madonna
macht, wo sie auch sei, ihre Umgebung vergessen. Aber von wie-
vielen Kunstwerken kann man das sagen? Wenn z. B. aus einem
schwäbischen Kloster ein Grabstein in ein norddeutsches Museum
geschleppt würde, ein Grabstein, dessen absoluter Kunstwert nur
mäßig ist, der aber durch die mit ihm verbundenen örtlichen
Erinnerungen voll Lebens noch ist — was bleibt von ihm übrig?
Ich brauche in dieser Versammlung den Gedanken nicht weiter
auszuführen, denn ich bin sicher, ohne Widerspruch zu bleiben,
wenn ich sage: jede Ortsentfremdung eines Kunstwerks bedeutet
einen Wertverlust. Dieselbe wird je nach der Art des Werkes
dem Grade nach sehr verschieden sein; aber etwas Wertver-
lust ist immer da. Und oft genug heißt es ganz einfach:
»Zum Teufel ist der Spiritus,
Das Phlegma ist geblieben.«

Meine Herren! Die hinter uns liegenden zwölf Tage für Denk-
malpflege haben ein deutliches Zeugnis dafür abgelegt, daß in
unseren Anschauungen über das Verhältnis der jeweiligen Gegen-
wart zur künstlerischen Hinterlassenschaft der Vergangenheit ein
tiefgründiger Wandel sich vollzogen hat. Wir messen den Wert
eines alten Kunstwerkes nicht mehr allein nach der Höhe des
Vergnügens, das uns aus ihm quillt; wir haben erkannt, daß es
außer seinen ästhetischen und außer seinen antiquarischen Eigen-
schaften noch andere besitzt; wir fassen sie in das Wort Denk-
mal
zusammen. Ein einfacher Satz, der aber sehr weitgehende
Konsequenzen hat. Wie stehen unsere Museen dazu? Sie leben
noch sehr im Bann der alten Anschauung, die großen, führenden,
bewunderten am meisten. Sie betrachten noch immer das ganze
Reich der alten Kunst als ein freies Gut, das jedesmal dem gehört,
der den Verstand und die Energie hat, es in Besitz zu nehmen.
Und das Publikum lebt noch immer in der Vorstellung, das Ideal

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[290/0352] Denkmalpflege und Museen lichen Ort betrachten, aber wir sehen sie deshalb nicht richtiger; meist schon nicht mit unserem physischen Auge richtiger, nie mit unserem geistigen; denn es fehlen alle Erreger der so notwendigen Phantasieassoziationen, es fehlen die unwägbaren Verbindungs- werte. Nur wenige Werke von allerstärkster individueller Potenz behalten wohl überall etwas Zwingendes; eine Sixtinische Madonna macht, wo sie auch sei, ihre Umgebung vergessen. Aber von wie- vielen Kunstwerken kann man das sagen? Wenn z. B. aus einem schwäbischen Kloster ein Grabstein in ein norddeutsches Museum geschleppt würde, ein Grabstein, dessen absoluter Kunstwert nur mäßig ist, der aber durch die mit ihm verbundenen örtlichen Erinnerungen voll Lebens noch ist — was bleibt von ihm übrig? Ich brauche in dieser Versammlung den Gedanken nicht weiter auszuführen, denn ich bin sicher, ohne Widerspruch zu bleiben, wenn ich sage: jede Ortsentfremdung eines Kunstwerks bedeutet einen Wertverlust. Dieselbe wird je nach der Art des Werkes dem Grade nach sehr verschieden sein; aber etwas Wertver- lust ist immer da. Und oft genug heißt es ganz einfach: »Zum Teufel ist der Spiritus, Das Phlegma ist geblieben.« Meine Herren! Die hinter uns liegenden zwölf Tage für Denk- malpflege haben ein deutliches Zeugnis dafür abgelegt, daß in unseren Anschauungen über das Verhältnis der jeweiligen Gegen- wart zur künstlerischen Hinterlassenschaft der Vergangenheit ein tiefgründiger Wandel sich vollzogen hat. Wir messen den Wert eines alten Kunstwerkes nicht mehr allein nach der Höhe des Vergnügens, das uns aus ihm quillt; wir haben erkannt, daß es außer seinen ästhetischen und außer seinen antiquarischen Eigen- schaften noch andere besitzt; wir fassen sie in das Wort Denk- mal zusammen. Ein einfacher Satz, der aber sehr weitgehende Konsequenzen hat. Wie stehen unsere Museen dazu? Sie leben noch sehr im Bann der alten Anschauung, die großen, führenden, bewunderten am meisten. Sie betrachten noch immer das ganze Reich der alten Kunst als ein freies Gut, das jedesmal dem gehört, der den Verstand und die Energie hat, es in Besitz zu nehmen. Und das Publikum lebt noch immer in der Vorstellung, das Ideal

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/352>, abgerufen am 24.11.2024.