Es ist bekanntlich das Zeitalter der Renaissance, das uns -- ein Seitenstück im kleinen zu so vielen gro- ßen auf halbem Wege erlahmten Reformbestrebungen und den daraus zurückbleibenden Spaltungen im geistigen Leben -- die fatale Doppelwährung im Bereiche der Schriftzeichen hinterlassen hat, die wir Deutschen, scheint es, sobald noch nicht überwunden haben werden. Wie es unter den Zeichen der Zeit kein solches ist, auf das wir stolz sein dürften, daß unser viellesendes Geschlecht in dem alten Pro- zesse zwischen "deutscher" und "lateinischer" Schrift gerade für die Schönheitsfrage am wenigsten Teilnahme zeigt: so war es ganz echt aus der Gesinnung der Renaissance gedacht, daß damals die erlesensten Geister, Vertreter der Altertumswissenschaft, der bil- denden Kunst, der Mathematik, ihre Bemühungen vereinigten als zu einer großen und würdigen Aufgabe: -- die Gestalt der Buch- staben so zu reformieren, daß sie nach jeder der genannten Richtungen für vollkommen gelten mußten. -- Ein bislang unbeachtet geblie- benes Denkmal dieser Bestrebungen fand ich in einem Manuskripte der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, cod. lat. 451 40.
Es ist gleich ein willkommener Umstand, daß wir die Persön- lichkeit, wo nicht des Verfassers, so doch des Schreibers, feststellen können. Herr Bibliotheksekretär Dr. Wilhelm Meyer erkannte in den sauberen Schriftzügen die Hand eines in der Geschichte des deutschen Humanismus und neuerlich auch in der kunstgeschicht- lichen Forschung öfters genannten Mannes, des Nürnberger Stadt- physikus Hartmann Schedel; nach Ablösung des später ein- geklebten Schmutzblattes kam auf der Innenseite des Deckels überdies sein Name zum Vorschein. Wer die Art dieses mit unglaub- licher Emsigkeit sammelnden und abschreibenden, selber aber durch- aus unfruchtbaren Gelehrten aus seinem reichen Handschriften- nachlaß kennen gelernt hat, wird von vornherein überzeugt sein, daß er auch in bezug auf dieses Buch nur Kopist, nicht Autor ist. Ich lasse in Kürze die Beschreibung folgen.
Der Einbanddeckel, noch der ursprüngliche, trägt die Auf- schrift "ars litteraria". Die ersten drei Blätter fehlen und sind wohl überhaupt unbeschrieben geblieben. Auf Fol. 4 beginnt ein
Es ist bekanntlich das Zeitalter der Renaissance, das uns — ein Seitenstück im kleinen zu so vielen gro- ßen auf halbem Wege erlahmten Reformbestrebungen und den daraus zurückbleibenden Spaltungen im geistigen Leben — die fatale Doppelwährung im Bereiche der Schriftzeichen hinterlassen hat, die wir Deutschen, scheint es, sobald noch nicht überwunden haben werden. Wie es unter den Zeichen der Zeit kein solches ist, auf das wir stolz sein dürften, daß unser viellesendes Geschlecht in dem alten Pro- zesse zwischen »deutscher« und »lateinischer« Schrift gerade für die Schönheitsfrage am wenigsten Teilnahme zeigt: so war es ganz echt aus der Gesinnung der Renaissance gedacht, daß damals die erlesensten Geister, Vertreter der Altertumswissenschaft, der bil- denden Kunst, der Mathematik, ihre Bemühungen vereinigten als zu einer großen und würdigen Aufgabe: — die Gestalt der Buch- staben so zu reformieren, daß sie nach jeder der genannten Richtungen für vollkommen gelten mußten. — Ein bislang unbeachtet geblie- benes Denkmal dieser Bestrebungen fand ich in einem Manuskripte der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, cod. lat. 451 40.
Es ist gleich ein willkommener Umstand, daß wir die Persön- lichkeit, wo nicht des Verfassers, so doch des Schreibers, feststellen können. Herr Bibliotheksekretär Dr. Wilhelm Meyer erkannte in den sauberen Schriftzügen die Hand eines in der Geschichte des deutschen Humanismus und neuerlich auch in der kunstgeschicht- lichen Forschung öfters genannten Mannes, des Nürnberger Stadt- physikus Hartmann Schedel; nach Ablösung des später ein- geklebten Schmutzblattes kam auf der Innenseite des Deckels überdies sein Name zum Vorschein. Wer die Art dieses mit unglaub- licher Emsigkeit sammelnden und abschreibenden, selber aber durch- aus unfruchtbaren Gelehrten aus seinem reichen Handschriften- nachlaß kennen gelernt hat, wird von vornherein überzeugt sein, daß er auch in bezug auf dieses Buch nur Kopist, nicht Autor ist. Ich lasse in Kürze die Beschreibung folgen.
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und den daraus zurückbleibenden Spaltungen im
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unter den Zeichen der Zeit kein solches ist, auf das wir stolz sein
dürften, daß unser viellesendes Geschlecht in dem alten Pro-
zesse zwischen »deutscher« und »lateinischer« Schrift gerade für
die Schönheitsfrage am wenigsten Teilnahme zeigt: so war es ganz
echt aus der Gesinnung der Renaissance gedacht, daß damals die
erlesensten Geister, Vertreter der Altertumswissenschaft, der bil-
denden Kunst, der Mathematik, ihre Bemühungen vereinigten als
zu einer großen und würdigen Aufgabe: — die Gestalt der Buch-
staben so zu reformieren, daß sie nach jeder der genannten Richtungen
für vollkommen gelten mußten. — Ein bislang unbeachtet geblie-
benes Denkmal dieser Bestrebungen fand ich in einem Manuskripte
der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, cod. lat. 451 40.
Es ist gleich ein willkommener Umstand, daß wir die Persön-
lichkeit, wo nicht des Verfassers, so doch des Schreibers, feststellen
können. Herr Bibliotheksekretär Dr. Wilhelm Meyer erkannte in
den sauberen Schriftzügen die Hand eines in der Geschichte des
deutschen Humanismus und neuerlich auch in der kunstgeschicht-
lichen Forschung öfters genannten Mannes, des Nürnberger Stadt-
physikus Hartmann Schedel; nach Ablösung des später ein-
geklebten Schmutzblattes kam auf der Innenseite des Deckels
überdies sein Name zum Vorschein. Wer die Art dieses mit unglaub-
licher Emsigkeit sammelnden und abschreibenden, selber aber durch-
aus unfruchtbaren Gelehrten aus seinem reichen Handschriften-
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daß er auch in bezug auf dieses Buch nur Kopist, nicht Autor ist.
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [199]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/251>, abgerufen am 25.11.2024.
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