Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl deutlich zutage, daß das Pentimento nicht unter, sondernsinnwidrig über der definitiven Form liegt. So legen diese verräterischen Pentimenti, gewiß sehr gegen Ein eigentümliches Interesse knüpft sich noch an den Straß- Nun bleibt noch die Frage übrig: wer ist der Urheber der Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl deutlich zutage, daß das Pentimento nicht unter, sondernsinnwidrig über der definitiven Form liegt. So legen diese verräterischen Pentimenti, gewiß sehr gegen Ein eigentümliches Interesse knüpft sich noch an den Straß- Nun bleibt noch die Frage übrig: wer ist der Urheber der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0236" n="194"/><fw place="top" type="header">Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl</fw><lb/> deutlich zutage, daß das Pentimento nicht <hi rendition="#g">unter,</hi> sondern<lb/> sinnwidrig <hi rendition="#g">über der definitiven</hi> Form liegt.</p><lb/> <p>So legen diese verräterischen Pentimenti, gewiß sehr gegen<lb/> den Willen ihres Urhebers, dasselbe Zeugnis ab, das wir aus dem<lb/> Vergleich der zeichnerischen Behandlung schon entnahmen, und<lb/> wir werden unser Urteil jetzt so zusammenfassen dürfen: Original<lb/> von der Hand Lionardos ist weder das Weimarer noch das Straß-<lb/> burger Exemplar, vielmehr sind beide Exemplare Kopien, das<lb/> Straßburger eine alte, wohl dem Original annähernd gleichzeitige<lb/> Kopie, das Weimarer eine moderne Kopie zweiter Hand. Er-<lb/> innert man sich, daß beide aus England stammen, so liegt die<lb/> Vermutung nicht weit, daß bei der Teilung des alten Exemplares<lb/> zwischen die zwei ungenannten Maler derjenige von ihnen, der<lb/> sich mit dem kleineren Teil begnügen mußte, die übrigen nach-<lb/> gezeichnet habe; ob bona oder mala fide, bleibt eine ziemlich<lb/> gleichgültige Frage.</p><lb/> <p>Ein eigentümliches Interesse knüpft sich noch an den Straß-<lb/> burger Christuskopf (Taf. 19). Er ist bartlos, im Unterschied zum<lb/> Original in S. Maria delle Grazie und zu allen sonstigen Kopien, im<lb/> Widerspruch auch mit der ikonographischen Regel. Denken wir<lb/> dann noch an die Überlieferung, von der sowohl Vasari als Lomazzo<lb/> Kenntnis hatten, che quella (testa) del Cristo lasciò imperfetta,<lb/> non pensando poterle dare quella divinità celeste, che all' imagine<lb/> di Cristo si richiede — so erklärt sich daraus der Zustand der<lb/> Straßburger Kopie aufs beste. Der Kopf ist unfertig, nicht bloß<lb/> insofern ihm der Bart fehlt, sondern es scheint die ganze untere<lb/> Hälfte des Gesichtes noch nicht in der rechten Ordnung zu sein.<lb/> Wann der Bart hinzugefügt wurde, ob etwa von Lionardo selbst<lb/> bei seinem zweiten Aufenthalt in Mailand, oder ob vielleicht gar<lb/> von anderer Hand, das entzieht sich der Beantwortung.</p><lb/> <p>Nun bleibt noch die Frage übrig: wer ist der Urheber der<lb/> Straßburger Kartons? Ich hoffe, daß sich auch darauf eine Ant-<lb/> wort wird geben lassen; allerdings nur von einem, der die sämt-<lb/> lichen bedeutenderen Kopien genau kennt. Meine Bemühungen<lb/> um photographische Reproduktionen derselben sind großenteils<lb/> erfolglos geblieben. Mich in unbestimmten Vermutungen zu<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [194/0236]
Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
deutlich zutage, daß das Pentimento nicht unter, sondern
sinnwidrig über der definitiven Form liegt.
So legen diese verräterischen Pentimenti, gewiß sehr gegen
den Willen ihres Urhebers, dasselbe Zeugnis ab, das wir aus dem
Vergleich der zeichnerischen Behandlung schon entnahmen, und
wir werden unser Urteil jetzt so zusammenfassen dürfen: Original
von der Hand Lionardos ist weder das Weimarer noch das Straß-
burger Exemplar, vielmehr sind beide Exemplare Kopien, das
Straßburger eine alte, wohl dem Original annähernd gleichzeitige
Kopie, das Weimarer eine moderne Kopie zweiter Hand. Er-
innert man sich, daß beide aus England stammen, so liegt die
Vermutung nicht weit, daß bei der Teilung des alten Exemplares
zwischen die zwei ungenannten Maler derjenige von ihnen, der
sich mit dem kleineren Teil begnügen mußte, die übrigen nach-
gezeichnet habe; ob bona oder mala fide, bleibt eine ziemlich
gleichgültige Frage.
Ein eigentümliches Interesse knüpft sich noch an den Straß-
burger Christuskopf (Taf. 19). Er ist bartlos, im Unterschied zum
Original in S. Maria delle Grazie und zu allen sonstigen Kopien, im
Widerspruch auch mit der ikonographischen Regel. Denken wir
dann noch an die Überlieferung, von der sowohl Vasari als Lomazzo
Kenntnis hatten, che quella (testa) del Cristo lasciò imperfetta,
non pensando poterle dare quella divinità celeste, che all' imagine
di Cristo si richiede — so erklärt sich daraus der Zustand der
Straßburger Kopie aufs beste. Der Kopf ist unfertig, nicht bloß
insofern ihm der Bart fehlt, sondern es scheint die ganze untere
Hälfte des Gesichtes noch nicht in der rechten Ordnung zu sein.
Wann der Bart hinzugefügt wurde, ob etwa von Lionardo selbst
bei seinem zweiten Aufenthalt in Mailand, oder ob vielleicht gar
von anderer Hand, das entzieht sich der Beantwortung.
Nun bleibt noch die Frage übrig: wer ist der Urheber der
Straßburger Kartons? Ich hoffe, daß sich auch darauf eine Ant-
wort wird geben lassen; allerdings nur von einem, der die sämt-
lichen bedeutenderen Kopien genau kennt. Meine Bemühungen
um photographische Reproduktionen derselben sind großenteils
erfolglos geblieben. Mich in unbestimmten Vermutungen zu
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