der Westen dem halb germanisierten Norden überlegen, dann aber trat dieser dauernd an die Spitze. Aber auch nicht das rein romanische Blut ergab einen Vorzug. Die spezifisch mittelalter- liche Kunst hatte ihren Herd in Deutschland, Nordfrankreich, Burgund; in Italien beteiligte sich an ihrer Hervorbringung nur der nördlich des Apennin gelegene Teil der Halbinsel, Rom schon nicht mehr; Spanien hat eine originale Kunst überhaupt nicht besessen.
National im eigentlichen Sinne ist indessen die Kunst des Mittelalters niemals geworden. Nicht der Genius eines einzelnen Volkes, wie im Altertum der hellenische, war Führer. Der Einheits- punkt lag in einer Institution, die mit dem Begriff der Nationalität nichts zu tun hatte, in der katholischen Kirche. Das auf Über- lieferung beruhende Bedürfnis der Kirche hatte die Kunst ins Leben gerufen; kirchlich blieb sie, solange sie mittelalterlich blieb; das Emporkommen einer autonomen weltlichen Kunst ist eines der ersten Zeichen des nahenden Verfalls der mittelalterlichen Weltanschauung. Der Kirche verdankt die Kunst, daß sie nicht in Anarchie verfiel; sie verdankt ihr ebenso die Stetigkeit ihrer Fortentwicklung, denn es war der größte Segen für sie, daß sie immer wieder an denselben Aufgaben sich zu üben und zu voll- kommneren Lösungen sich emporzuheben hatte. Ebenso klar ersichtlich ist freilich, daß die Verbindung mit der Kirche eine Schranke bedeutete. Die Kirche hat ihre Oberhoheit zwar ohne Engherzigkeit geübt; so umfassend, wie ihr Wirkungskreis ge- nommen wurde, durfte als kirchliche Kunst vieles auftreten, was unmittelbar mit der Religion nichts zu tun hatte; gleichwohl blieb es bestehen, daß ein anderes Daseinsrecht, als das ihr die Zwecke der Kirche gaben, für die Kunst nicht in Betracht kam. Daher die Ungleichheit des Verhaltens in den verschiedenen Gat- tungen. Unvergleichlich kräftiger und ergebnisreicher betätigte sich der schöpferische Trieb in den tektonischen, als in den imi- tativen Künsten. Jene, die stofflich indifferent sind, gestatteten ein freies Ausleben der Phantasie. Auf diesen lastete die Autorität. Das Bild, das der Maler und Plastiker hinstellte, war wieder nur aus dem Bilde, dem überlieferten, nicht aus der Natur geschöpft.
Die Kunst des Mittelalters
der Westen dem halb germanisierten Norden überlegen, dann aber trat dieser dauernd an die Spitze. Aber auch nicht das rein romanische Blut ergab einen Vorzug. Die spezifisch mittelalter- liche Kunst hatte ihren Herd in Deutschland, Nordfrankreich, Burgund; in Italien beteiligte sich an ihrer Hervorbringung nur der nördlich des Apennin gelegene Teil der Halbinsel, Rom schon nicht mehr; Spanien hat eine originale Kunst überhaupt nicht besessen.
National im eigentlichen Sinne ist indessen die Kunst des Mittelalters niemals geworden. Nicht der Genius eines einzelnen Volkes, wie im Altertum der hellenische, war Führer. Der Einheits- punkt lag in einer Institution, die mit dem Begriff der Nationalität nichts zu tun hatte, in der katholischen Kirche. Das auf Über- lieferung beruhende Bedürfnis der Kirche hatte die Kunst ins Leben gerufen; kirchlich blieb sie, solange sie mittelalterlich blieb; das Emporkommen einer autonomen weltlichen Kunst ist eines der ersten Zeichen des nahenden Verfalls der mittelalterlichen Weltanschauung. Der Kirche verdankt die Kunst, daß sie nicht in Anarchie verfiel; sie verdankt ihr ebenso die Stetigkeit ihrer Fortentwicklung, denn es war der größte Segen für sie, daß sie immer wieder an denselben Aufgaben sich zu üben und zu voll- kommneren Lösungen sich emporzuheben hatte. Ebenso klar ersichtlich ist freilich, daß die Verbindung mit der Kirche eine Schranke bedeutete. Die Kirche hat ihre Oberhoheit zwar ohne Engherzigkeit geübt; so umfassend, wie ihr Wirkungskreis ge- nommen wurde, durfte als kirchliche Kunst vieles auftreten, was unmittelbar mit der Religion nichts zu tun hatte; gleichwohl blieb es bestehen, daß ein anderes Daseinsrecht, als das ihr die Zwecke der Kirche gaben, für die Kunst nicht in Betracht kam. Daher die Ungleichheit des Verhaltens in den verschiedenen Gat- tungen. Unvergleichlich kräftiger und ergebnisreicher betätigte sich der schöpferische Trieb in den tektonischen, als in den imi- tativen Künsten. Jene, die stofflich indifferent sind, gestatteten ein freies Ausleben der Phantasie. Auf diesen lastete die Autorität. Das Bild, das der Maler und Plastiker hinstellte, war wieder nur aus dem Bilde, dem überlieferten, nicht aus der Natur geschöpft.
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[6/0020]
Die Kunst des Mittelalters
der Westen dem halb germanisierten Norden überlegen, dann
aber trat dieser dauernd an die Spitze. Aber auch nicht das rein
romanische Blut ergab einen Vorzug. Die spezifisch mittelalter-
liche Kunst hatte ihren Herd in Deutschland, Nordfrankreich,
Burgund; in Italien beteiligte sich an ihrer Hervorbringung nur
der nördlich des Apennin gelegene Teil der Halbinsel, Rom schon
nicht mehr; Spanien hat eine originale Kunst überhaupt nicht
besessen.
National im eigentlichen Sinne ist indessen die Kunst des
Mittelalters niemals geworden. Nicht der Genius eines einzelnen
Volkes, wie im Altertum der hellenische, war Führer. Der Einheits-
punkt lag in einer Institution, die mit dem Begriff der Nationalität
nichts zu tun hatte, in der katholischen Kirche. Das auf Über-
lieferung beruhende Bedürfnis der Kirche hatte die Kunst ins
Leben gerufen; kirchlich blieb sie, solange sie mittelalterlich blieb;
das Emporkommen einer autonomen weltlichen Kunst ist eines
der ersten Zeichen des nahenden Verfalls der mittelalterlichen
Weltanschauung. Der Kirche verdankt die Kunst, daß sie nicht
in Anarchie verfiel; sie verdankt ihr ebenso die Stetigkeit ihrer
Fortentwicklung, denn es war der größte Segen für sie, daß sie
immer wieder an denselben Aufgaben sich zu üben und zu voll-
kommneren Lösungen sich emporzuheben hatte. Ebenso klar
ersichtlich ist freilich, daß die Verbindung mit der Kirche eine
Schranke bedeutete. Die Kirche hat ihre Oberhoheit zwar ohne
Engherzigkeit geübt; so umfassend, wie ihr Wirkungskreis ge-
nommen wurde, durfte als kirchliche Kunst vieles auftreten, was
unmittelbar mit der Religion nichts zu tun hatte; gleichwohl
blieb es bestehen, daß ein anderes Daseinsrecht, als das ihr die
Zwecke der Kirche gaben, für die Kunst nicht in Betracht kam.
Daher die Ungleichheit des Verhaltens in den verschiedenen Gat-
tungen. Unvergleichlich kräftiger und ergebnisreicher betätigte
sich der schöpferische Trieb in den tektonischen, als in den imi-
tativen Künsten. Jene, die stofflich indifferent sind, gestatteten
ein freies Ausleben der Phantasie. Auf diesen lastete die Autorität.
Das Bild, das der Maler und Plastiker hinstellte, war wieder nur
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/20>, abgerufen am 27.07.2024.
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