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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Naturalismus des XV. Jahrhunderts im Norden war in der Bildung
des Kindeskörpers -- es handelt sich noch wesentlich um das Christ-
kind -- von anfänglicher Magerkeit und Häßlichkeit nach und nach
zu einer immer noch lebenswahren, aber sehr anmutigen Darstellung
der weichen und unfertigen Form gelangt. Dagegen der Renais-
sanceputto der Deutschen erwächst nicht aus der Naturbeobach-
tung, er wird nach einem übernommenen Schema geformt. Be-
achten wir nun, wie Backofen demselben in seiner Weise Leben
einflößt: pralle Muskeln, gespannte Haut, grobe Füße, ältliche,
seltsam verkniffene Gesichter; kurz, das Gegenteil von kindlicher
Weichheit und Zartheit.

Ich nannte oben als drittes Kurfürstendenkmal, das nach
seiner Zeitstellung noch für Backofen in Frage kommen könnte,
dasjenige Bertholds von Henneberg (gest. 1504). Dieses gilt nun
freilich seit geraumer Zeit für eine "unverkennbare" Arbeit Tilmann
Riemenschneiders. Die Attribution scheint von Fr. Schneider
herzurühren; Bode hat ihr allgemeine Anerkennung verschafft.
Die von mir ("Denkmäler der deutschen Bildhauerkunst") ver-
öffentlichten großen Photographien gestatten genauen Vergleich
mit den zwei sachlich und zeitlich zunächst in Betracht kom-
menden authentischen Arbeiten Riemenschneiders, den Denkmälern
des Fürstbischofs Scherenberg (etwa 1498) und des Fürstbischofs
Bibra (etwa 1519) im Dom zu Würzburg. Zeitlich steht das Henne-
bergdenkmal zwischen diesen in der Mitte. Legen wir in dieser Folge
die Abbildungen nebeneinander, wie springt da sofort das Mainzer
Denkmal aus der Reihe heraus! Die beiden Würzburger, obgleich
durch 20 Jahre voneinander getrennt, weichen nur im Rahmenwerk
(hier allerdings erheblich) voneinander ab; in den Hauptfiguren
volle Übereinstimmung der Empfindung wie der Durchbildung;
Riemenschneiders plastischer Stil ist in einem Stadium der Un-
veränderlichkeit angelangt1). Dagegen auf dem Mainzer: wieviel
energischer der Rhythmus, wieviel malerischer die Gruppierung der

1) Nach meiner Überzeugung rührt übrigens am Bibradenkmal auch
nur die Hauptfigur nebst den zwei kleinen Heiligen unmittelbar von
Riemenschneider her, die zum erstenmal in dieser Werkstatt renaissancemäßig
durchgeführte Architektur und die Putten von einem jüngeren Gehilfen.

Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Naturalismus des XV. Jahrhunderts im Norden war in der Bildung
des Kindeskörpers — es handelt sich noch wesentlich um das Christ-
kind — von anfänglicher Magerkeit und Häßlichkeit nach und nach
zu einer immer noch lebenswahren, aber sehr anmutigen Darstellung
der weichen und unfertigen Form gelangt. Dagegen der Renais-
sanceputto der Deutschen erwächst nicht aus der Naturbeobach-
tung, er wird nach einem übernommenen Schema geformt. Be-
achten wir nun, wie Backofen demselben in seiner Weise Leben
einflößt: pralle Muskeln, gespannte Haut, grobe Füße, ältliche,
seltsam verkniffene Gesichter; kurz, das Gegenteil von kindlicher
Weichheit und Zartheit.

Ich nannte oben als drittes Kurfürstendenkmal, das nach
seiner Zeitstellung noch für Backofen in Frage kommen könnte,
dasjenige Bertholds von Henneberg (gest. 1504). Dieses gilt nun
freilich seit geraumer Zeit für eine »unverkennbare« Arbeit Tilmann
Riemenschneiders. Die Attribution scheint von Fr. Schneider
herzurühren; Bode hat ihr allgemeine Anerkennung verschafft.
Die von mir (»Denkmäler der deutschen Bildhauerkunst«) ver-
öffentlichten großen Photographien gestatten genauen Vergleich
mit den zwei sachlich und zeitlich zunächst in Betracht kom-
menden authentischen Arbeiten Riemenschneiders, den Denkmälern
des Fürstbischofs Scherenberg (etwa 1498) und des Fürstbischofs
Bibra (etwa 1519) im Dom zu Würzburg. Zeitlich steht das Henne-
bergdenkmal zwischen diesen in der Mitte. Legen wir in dieser Folge
die Abbildungen nebeneinander, wie springt da sofort das Mainzer
Denkmal aus der Reihe heraus! Die beiden Würzburger, obgleich
durch 20 Jahre voneinander getrennt, weichen nur im Rahmenwerk
(hier allerdings erheblich) voneinander ab; in den Hauptfiguren
volle Übereinstimmung der Empfindung wie der Durchbildung;
Riemenschneiders plastischer Stil ist in einem Stadium der Un-
veränderlichkeit angelangt1). Dagegen auf dem Mainzer: wieviel
energischer der Rhythmus, wieviel malerischer die Gruppierung der

1) Nach meiner Überzeugung rührt übrigens am Bibradenkmal auch
nur die Hauptfigur nebst den zwei kleinen Heiligen unmittelbar von
Riemenschneider her, die zum erstenmal in dieser Werkstatt renaissancemäßig
durchgeführte Architektur und die Putten von einem jüngeren Gehilfen.
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[138/0170] Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom Naturalismus des XV. Jahrhunderts im Norden war in der Bildung des Kindeskörpers — es handelt sich noch wesentlich um das Christ- kind — von anfänglicher Magerkeit und Häßlichkeit nach und nach zu einer immer noch lebenswahren, aber sehr anmutigen Darstellung der weichen und unfertigen Form gelangt. Dagegen der Renais- sanceputto der Deutschen erwächst nicht aus der Naturbeobach- tung, er wird nach einem übernommenen Schema geformt. Be- achten wir nun, wie Backofen demselben in seiner Weise Leben einflößt: pralle Muskeln, gespannte Haut, grobe Füße, ältliche, seltsam verkniffene Gesichter; kurz, das Gegenteil von kindlicher Weichheit und Zartheit. Ich nannte oben als drittes Kurfürstendenkmal, das nach seiner Zeitstellung noch für Backofen in Frage kommen könnte, dasjenige Bertholds von Henneberg (gest. 1504). Dieses gilt nun freilich seit geraumer Zeit für eine »unverkennbare« Arbeit Tilmann Riemenschneiders. Die Attribution scheint von Fr. Schneider herzurühren; Bode hat ihr allgemeine Anerkennung verschafft. Die von mir (»Denkmäler der deutschen Bildhauerkunst«) ver- öffentlichten großen Photographien gestatten genauen Vergleich mit den zwei sachlich und zeitlich zunächst in Betracht kom- menden authentischen Arbeiten Riemenschneiders, den Denkmälern des Fürstbischofs Scherenberg (etwa 1498) und des Fürstbischofs Bibra (etwa 1519) im Dom zu Würzburg. Zeitlich steht das Henne- bergdenkmal zwischen diesen in der Mitte. Legen wir in dieser Folge die Abbildungen nebeneinander, wie springt da sofort das Mainzer Denkmal aus der Reihe heraus! Die beiden Würzburger, obgleich durch 20 Jahre voneinander getrennt, weichen nur im Rahmenwerk (hier allerdings erheblich) voneinander ab; in den Hauptfiguren volle Übereinstimmung der Empfindung wie der Durchbildung; Riemenschneiders plastischer Stil ist in einem Stadium der Un- veränderlichkeit angelangt 1). Dagegen auf dem Mainzer: wieviel energischer der Rhythmus, wieviel malerischer die Gruppierung der 1) Nach meiner Überzeugung rührt übrigens am Bibradenkmal auch nur die Hauptfigur nebst den zwei kleinen Heiligen unmittelbar von Riemenschneider her, die zum erstenmal in dieser Werkstatt renaissancemäßig durchgeführte Architektur und die Putten von einem jüngeren Gehilfen.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/170>, abgerufen am 25.11.2024.