Unter den drei uns jetzt bekannt gewordenen Initiatoren des "Realismus" in Oberdeutschland steht Konrad Witz durch um- fassende Einsicht in das Wesen des neuen Prinzips obenan. Ich will versuchen, sein künstlerisches Wollen und Können an dem Beispiel des Straßburger Bildes, das uns dasselbe, wo nicht in vollem Umfange, so doch in voller Intensität vorführt, zu erläutern.
Die Tafel hat die ansehnliche Größe von 1,61 : 1,30 m. Sie gehört in die in Deutschland um diese Zeit nicht häufig vorkom- mende Klasse einfacher Altaraufsätze, ohne Teilung der Bild- fläche, ohne Beigabe von Flügeln, wie ein solcher auch auf dem Bilde selbst zur Darstellung gebracht ist; war also vermutlich, gleich diesem, für einen Seitenaltar bestimmt. Daß man sich hinsichtlich der Entstehungszeit anfänglich um ein reichliches Menschenalter getäuscht hat, ist ganz begreiflich: so neu ist alles darin empfunden und gegeben. Mit der Kompositionsweise des Mittelalters ist restlos aufgeräumt. Keinerlei Rücksicht wird mehr auf das architektonisch-dekorative Ensemble genommen: das Bild trägt sein Stilgesetz in sich selbst, es will allein einen der Wirk- lichkeit entnommenen optischen Tatbestand in unbefangenster, überzeugendster Wiedergabe zur Erscheinung bringen. Was den Maler an der neugewonnenen Betrachtungsweise der Dinge um ihn her am meisten interessiert, ist erstens die Auffassung des Raumes in voller Tiefenwirkung und zweitens der Einfluß des Lichtes auf die Erscheinung der Körper. So sehr ist dies beides das Haupt- thema des Bildes geworden, daß die geistige Bedeutung der dar- gestellten Heiligen darüber fast vergessen ist. Den Schauplatz bildet eine langgestreckte Bogenhalle, etwa der Flügel eines Kreuz- ganges; wir sehen ihn in seiner ganzen Tiefe vor uns sich entwickeln, der Horizont ist hochgenommen, der Augenpunkt an die seitliche Bildgrenze geschoben. Das ist schon malerischer gedacht als die meisten perspektivischen Konstruktionen bei den zeitgenössischen Italienern. Viel bedeutsamer aber ist es, wie der Lichtfaktor hier herangezogen wird, um unsere Vorstellung von der Räumlichkeit über die Bildgrenze hinaus zu erweitern: wir können zwischen den sich eng zusammenschließenden Säulen nicht hinaussehen ins Freie, aber die einfallenden Lichter und Schatten lassen uns die
Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
Unter den drei uns jetzt bekannt gewordenen Initiatoren des »Realismus« in Oberdeutschland steht Konrad Witz durch um- fassende Einsicht in das Wesen des neuen Prinzips obenan. Ich will versuchen, sein künstlerisches Wollen und Können an dem Beispiel des Straßburger Bildes, das uns dasselbe, wo nicht in vollem Umfange, so doch in voller Intensität vorführt, zu erläutern.
Die Tafel hat die ansehnliche Größe von 1,61 : 1,30 m. Sie gehört in die in Deutschland um diese Zeit nicht häufig vorkom- mende Klasse einfacher Altaraufsätze, ohne Teilung der Bild- fläche, ohne Beigabe von Flügeln, wie ein solcher auch auf dem Bilde selbst zur Darstellung gebracht ist; war also vermutlich, gleich diesem, für einen Seitenaltar bestimmt. Daß man sich hinsichtlich der Entstehungszeit anfänglich um ein reichliches Menschenalter getäuscht hat, ist ganz begreiflich: so neu ist alles darin empfunden und gegeben. Mit der Kompositionsweise des Mittelalters ist restlos aufgeräumt. Keinerlei Rücksicht wird mehr auf das architektonisch-dekorative Ensemble genommen: das Bild trägt sein Stilgesetz in sich selbst, es will allein einen der Wirk- lichkeit entnommenen optischen Tatbestand in unbefangenster, überzeugendster Wiedergabe zur Erscheinung bringen. Was den Maler an der neugewonnenen Betrachtungsweise der Dinge um ihn her am meisten interessiert, ist erstens die Auffassung des Raumes in voller Tiefenwirkung und zweitens der Einfluß des Lichtes auf die Erscheinung der Körper. So sehr ist dies beides das Haupt- thema des Bildes geworden, daß die geistige Bedeutung der dar- gestellten Heiligen darüber fast vergessen ist. Den Schauplatz bildet eine langgestreckte Bogenhalle, etwa der Flügel eines Kreuz- ganges; wir sehen ihn in seiner ganzen Tiefe vor uns sich entwickeln, der Horizont ist hochgenommen, der Augenpunkt an die seitliche Bildgrenze geschoben. Das ist schon malerischer gedacht als die meisten perspektivischen Konstruktionen bei den zeitgenössischen Italienern. Viel bedeutsamer aber ist es, wie der Lichtfaktor hier herangezogen wird, um unsere Vorstellung von der Räumlichkeit über die Bildgrenze hinaus zu erweitern: wir können zwischen den sich eng zusammenschließenden Säulen nicht hinaussehen ins Freie, aber die einfallenden Lichter und Schatten lassen uns die
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Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
Unter den drei uns jetzt bekannt gewordenen Initiatoren des
»Realismus« in Oberdeutschland steht Konrad Witz durch um-
fassende Einsicht in das Wesen des neuen Prinzips obenan. Ich
will versuchen, sein künstlerisches Wollen und Können an dem
Beispiel des Straßburger Bildes, das uns dasselbe, wo nicht in
vollem Umfange, so doch in voller Intensität vorführt, zu erläutern.
Die Tafel hat die ansehnliche Größe von 1,61 : 1,30 m. Sie
gehört in die in Deutschland um diese Zeit nicht häufig vorkom-
mende Klasse einfacher Altaraufsätze, ohne Teilung der Bild-
fläche, ohne Beigabe von Flügeln, wie ein solcher auch auf dem
Bilde selbst zur Darstellung gebracht ist; war also vermutlich,
gleich diesem, für einen Seitenaltar bestimmt. Daß man sich
hinsichtlich der Entstehungszeit anfänglich um ein reichliches
Menschenalter getäuscht hat, ist ganz begreiflich: so neu ist alles
darin empfunden und gegeben. Mit der Kompositionsweise des
Mittelalters ist restlos aufgeräumt. Keinerlei Rücksicht wird mehr
auf das architektonisch-dekorative Ensemble genommen: das Bild
trägt sein Stilgesetz in sich selbst, es will allein einen der Wirk-
lichkeit entnommenen optischen Tatbestand in unbefangenster,
überzeugendster Wiedergabe zur Erscheinung bringen. Was den
Maler an der neugewonnenen Betrachtungsweise der Dinge um ihn
her am meisten interessiert, ist erstens die Auffassung des Raumes
in voller Tiefenwirkung und zweitens der Einfluß des Lichtes auf
die Erscheinung der Körper. So sehr ist dies beides das Haupt-
thema des Bildes geworden, daß die geistige Bedeutung der dar-
gestellten Heiligen darüber fast vergessen ist. Den Schauplatz
bildet eine langgestreckte Bogenhalle, etwa der Flügel eines Kreuz-
ganges; wir sehen ihn in seiner ganzen Tiefe vor uns sich entwickeln,
der Horizont ist hochgenommen, der Augenpunkt an die seitliche
Bildgrenze geschoben. Das ist schon malerischer gedacht als die
meisten perspektivischen Konstruktionen bei den zeitgenössischen
Italienern. Viel bedeutsamer aber ist es, wie der Lichtfaktor hier
herangezogen wird, um unsere Vorstellung von der Räumlichkeit
über die Bildgrenze hinaus zu erweitern: wir können zwischen
den sich eng zusammenschließenden Säulen nicht hinaussehen ins
Freie, aber die einfallenden Lichter und Schatten lassen uns die
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/145>, abgerufen am 22.11.2024.
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