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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Von der Fortbildung der Staatsbürger.
stehende Schrift wirklich ein Libell, d. i. eine gesetzwidrige,
in strafbarer Absicht publicirte Schrift sey, in richterlichen
Händen geblieben war, so verschaffte Charles Fox hundert
Jahre später durch die Bill, welche Erskine erdachte und
dem geliebteren Staatsmanne abtrat, der Jury das ge-
neral verdict
.

286. Das ist nun Alles so in England in der Ord-
nung, aber ein Misverstand ist es zu glauben, Preßfrei-
heit könne bestehen ohne einen starken Staat, der die
Injurienprocesse nicht zu scheuen hat, welche mit Kanonen
geführt werden, und, was mehr ist, ohne einen volks-
freien
Staat. In Dännemark verkündigte im Jahre
1770 der Minister-König Struensee die Preßfreiheit und
Voltaire sang dem Könige seinen Glückwunsch dazu. Es
hieß plötzlich im Lande: Thut was ihr sollt, Schreibt
was ihr wollt. Was ihr wollt? Dännemark war ein un-
umschränkt regiertes Reich, dessen Grundgesetz jedem Ver-
derben droht, der mit Wort oder That diese Ordnung an-
tastet, und am allerwenigsten war Struensee der Minister,
dessen Bahn das Licht der öffentlichen Meinung ertrug.
Gleich im nächsten Jahre traten Beschränkungen ein und
mußten es, denn man hatte das Unmögliche gewollt. Wenn
man nach Struensees Sturze die Censur einzuführen an-
stand, so ehrte man darin die Gefühle des Volks, welches
mit ganzer Seele an dieser geistigen Errungenschaft hing,
vielleicht auch schwebte Bernstorffs hellem Geiste vor, daß
die Überzeugungen des Zeitalters, auch wenn man sie nicht
theilt, Beachtung verdienen. Aber die Beschränkungen
wuchsen mit jedem Tage. Über Staat und Regierung
und allgemeine Anstalten durfte zuerst nicht in Zeitschrif-
ten, dann überhaupt nicht geurtheilt werden; Policeistrafen

Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.
ſtehende Schrift wirklich ein Libell, d. i. eine geſetzwidrige,
in ſtrafbarer Abſicht publicirte Schrift ſey, in richterlichen
Haͤnden geblieben war, ſo verſchaffte Charles Fox hundert
Jahre ſpaͤter durch die Bill, welche Erskine erdachte und
dem geliebteren Staatsmanne abtrat, der Jury das ge-
neral verdict
.

286. Das iſt nun Alles ſo in England in der Ord-
nung, aber ein Misverſtand iſt es zu glauben, Preßfrei-
heit koͤnne beſtehen ohne einen ſtarken Staat, der die
Injurienproceſſe nicht zu ſcheuen hat, welche mit Kanonen
gefuͤhrt werden, und, was mehr iſt, ohne einen volks-
freien
Staat. In Daͤnnemark verkuͤndigte im Jahre
1770 der Miniſter-Koͤnig Struenſee die Preßfreiheit und
Voltaire ſang dem Koͤnige ſeinen Gluͤckwunſch dazu. Es
hieß ploͤtzlich im Lande: Thut was ihr ſollt, Schreibt
was ihr wollt. Was ihr wollt? Daͤnnemark war ein un-
umſchraͤnkt regiertes Reich, deſſen Grundgeſetz jedem Ver-
derben droht, der mit Wort oder That dieſe Ordnung an-
taſtet, und am allerwenigſten war Struenſee der Miniſter,
deſſen Bahn das Licht der oͤffentlichen Meinung ertrug.
Gleich im naͤchſten Jahre traten Beſchraͤnkungen ein und
mußten es, denn man hatte das Unmoͤgliche gewollt. Wenn
man nach Struenſees Sturze die Cenſur einzufuͤhren an-
ſtand, ſo ehrte man darin die Gefuͤhle des Volks, welches
mit ganzer Seele an dieſer geiſtigen Errungenſchaft hing,
vielleicht auch ſchwebte Bernſtorffs hellem Geiſte vor, daß
die Überzeugungen des Zeitalters, auch wenn man ſie nicht
theilt, Beachtung verdienen. Aber die Beſchraͤnkungen
wuchſen mit jedem Tage. Über Staat und Regierung
und allgemeine Anſtalten durfte zuerſt nicht in Zeitſchrif-
ten, dann uͤberhaupt nicht geurtheilt werden; Policeiſtrafen

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[301/0313] Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger. ſtehende Schrift wirklich ein Libell, d. i. eine geſetzwidrige, in ſtrafbarer Abſicht publicirte Schrift ſey, in richterlichen Haͤnden geblieben war, ſo verſchaffte Charles Fox hundert Jahre ſpaͤter durch die Bill, welche Erskine erdachte und dem geliebteren Staatsmanne abtrat, der Jury das ge- neral verdict. 286. Das iſt nun Alles ſo in England in der Ord- nung, aber ein Misverſtand iſt es zu glauben, Preßfrei- heit koͤnne beſtehen ohne einen ſtarken Staat, der die Injurienproceſſe nicht zu ſcheuen hat, welche mit Kanonen gefuͤhrt werden, und, was mehr iſt, ohne einen volks- freien Staat. In Daͤnnemark verkuͤndigte im Jahre 1770 der Miniſter-Koͤnig Struenſee die Preßfreiheit und Voltaire ſang dem Koͤnige ſeinen Gluͤckwunſch dazu. Es hieß ploͤtzlich im Lande: Thut was ihr ſollt, Schreibt was ihr wollt. Was ihr wollt? Daͤnnemark war ein un- umſchraͤnkt regiertes Reich, deſſen Grundgeſetz jedem Ver- derben droht, der mit Wort oder That dieſe Ordnung an- taſtet, und am allerwenigſten war Struenſee der Miniſter, deſſen Bahn das Licht der oͤffentlichen Meinung ertrug. Gleich im naͤchſten Jahre traten Beſchraͤnkungen ein und mußten es, denn man hatte das Unmoͤgliche gewollt. Wenn man nach Struenſees Sturze die Cenſur einzufuͤhren an- ſtand, ſo ehrte man darin die Gefuͤhle des Volks, welches mit ganzer Seele an dieſer geiſtigen Errungenſchaft hing, vielleicht auch ſchwebte Bernſtorffs hellem Geiſte vor, daß die Überzeugungen des Zeitalters, auch wenn man ſie nicht theilt, Beachtung verdienen. Aber die Beſchraͤnkungen wuchſen mit jedem Tage. Über Staat und Regierung und allgemeine Anſtalten durfte zuerſt nicht in Zeitſchrif- ten, dann uͤberhaupt nicht geurtheilt werden; Policeiſtrafen

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/313>, abgerufen am 22.11.2024.