Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.Zwölftes Capitel. hatten einigermaaßen recht in dem was sie verneinten, alleinum so mehr Unrecht in dem was sie bejahten. Sie er- kannten das Unnütze in der gewöhnlichen Weise des alten Sprachunterrichts, warfen sich aber nun bloß auf die Nütz- lichkeit, welche, einseitig erstrebt, alle höhere Bildung aus- schließt 1). Platte Misgriffe dieser Art verschwinden frei- lich bei einem Volke von wissenschaftlichem Capital, aber Irrsätze wie die Rousseauschen leben immer wieder auf, weil sie aus einer Unsitte im Gemüth hervorgehen und jede beliebige Anwendung im Leben gestatten. Sie schmei- cheln dem innern Stolze, stempeln jeden, der sich zu ihnen bekennt, zu einem Genie, das, von seinem Zeitalter un- gehalten, sich selber Gesetze giebt, zwar die Staatsordnun- gen nothdürftig befolgt, um der öffentlichen Ahndung zu entgehen, auch ein öffentliches Amt verwaltet, insofern es dessen nicht entrathen kann, aber Alles wie unter der Würde des Mannes von wahrhafter Freiheit. Männer der Art dünken sich nicht dem einzelnen Staate, sondern der Welt, der Menschheit zu leben. Aus derselben Quelle fließt auch auf dem Boden der Wissenschaftlichen jenes oft so stolze Überheben über den Staat und den Bedarf desselben. Man vernimmt zu Zeiten von einer Rechtsgelehrsamkeit, welche, sich selber Zweck, viel zu gut sey für die Rechtsanwen- dung, von einer Gegenwart, viel zu schlecht um verstan- den zu werden, von einer Historie, viel zu vornehm um bis auf den heutigen Tag zu gehn. Vergeblich räth sol- chen Stimmungen der Dichter, das was in schwankender Erscheinung lebt durch dauernde Gedanken zu befestigen. Thucydides stellte was ihn schmerzte über Reue und Klage hinaus in seiner Geschichte auf; denn die Geschichte ist immer groß, mag ihr nächstes Ziel Untergang oder Auf- gang seyn. Zwoͤlftes Capitel. hatten einigermaaßen recht in dem was ſie verneinten, alleinum ſo mehr Unrecht in dem was ſie bejahten. Sie er- kannten das Unnuͤtze in der gewoͤhnlichen Weiſe des alten Sprachunterrichts, warfen ſich aber nun bloß auf die Nuͤtz- lichkeit, welche, einſeitig erſtrebt, alle hoͤhere Bildung aus- ſchließt 1). Platte Misgriffe dieſer Art verſchwinden frei- lich bei einem Volke von wiſſenſchaftlichem Capital, aber Irrſaͤtze wie die Rouſſeauſchen leben immer wieder auf, weil ſie aus einer Unſitte im Gemuͤth hervorgehen und jede beliebige Anwendung im Leben geſtatten. Sie ſchmei- cheln dem innern Stolze, ſtempeln jeden, der ſich zu ihnen bekennt, zu einem Genie, das, von ſeinem Zeitalter un- gehalten, ſich ſelber Geſetze giebt, zwar die Staatsordnun- gen nothduͤrftig befolgt, um der oͤffentlichen Ahndung zu entgehen, auch ein oͤffentliches Amt verwaltet, inſofern es deſſen nicht entrathen kann, aber Alles wie unter der Wuͤrde des Mannes von wahrhafter Freiheit. Maͤnner der Art duͤnken ſich nicht dem einzelnen Staate, ſondern der Welt, der Menſchheit zu leben. Aus derſelben Quelle fließt auch auf dem Boden der Wiſſenſchaftlichen jenes oft ſo ſtolze Überheben uͤber den Staat und den Bedarf deſſelben. Man vernimmt zu Zeiten von einer Rechtsgelehrſamkeit, welche, ſich ſelber Zweck, viel zu gut ſey fuͤr die Rechtsanwen- dung, von einer Gegenwart, viel zu ſchlecht um verſtan- den zu werden, von einer Hiſtorie, viel zu vornehm um bis auf den heutigen Tag zu gehn. Vergeblich raͤth ſol- chen Stimmungen der Dichter, das was in ſchwankender Erſcheinung lebt durch dauernde Gedanken zu befeſtigen. Thucydides ſtellte was ihn ſchmerzte uͤber Reue und Klage hinaus in ſeiner Geſchichte auf; denn die Geſchichte iſt immer groß, mag ihr naͤchſtes Ziel Untergang oder Auf- gang ſeyn. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0276" n="264"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zwoͤlftes Capitel</hi>.</fw><lb/> hatten einigermaaßen recht in dem was ſie verneinten, allein<lb/> um ſo mehr Unrecht in dem was ſie bejahten. Sie er-<lb/> kannten das Unnuͤtze in der gewoͤhnlichen Weiſe des alten<lb/> Sprachunterrichts, warfen ſich aber nun bloß auf die Nuͤtz-<lb/> lichkeit, welche, einſeitig erſtrebt, alle hoͤhere Bildung aus-<lb/> ſchließt <hi rendition="#sup">1</hi>). 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Zwoͤlftes Capitel.
hatten einigermaaßen recht in dem was ſie verneinten, allein
um ſo mehr Unrecht in dem was ſie bejahten. Sie er-
kannten das Unnuͤtze in der gewoͤhnlichen Weiſe des alten
Sprachunterrichts, warfen ſich aber nun bloß auf die Nuͤtz-
lichkeit, welche, einſeitig erſtrebt, alle hoͤhere Bildung aus-
ſchließt 1). Platte Misgriffe dieſer Art verſchwinden frei-
lich bei einem Volke von wiſſenſchaftlichem Capital, aber
Irrſaͤtze wie die Rouſſeauſchen leben immer wieder auf,
weil ſie aus einer Unſitte im Gemuͤth hervorgehen und
jede beliebige Anwendung im Leben geſtatten. Sie ſchmei-
cheln dem innern Stolze, ſtempeln jeden, der ſich zu ihnen
bekennt, zu einem Genie, das, von ſeinem Zeitalter un-
gehalten, ſich ſelber Geſetze giebt, zwar die Staatsordnun-
gen nothduͤrftig befolgt, um der oͤffentlichen Ahndung zu
entgehen, auch ein oͤffentliches Amt verwaltet, inſofern es
deſſen nicht entrathen kann, aber Alles wie unter der
Wuͤrde des Mannes von wahrhafter Freiheit. Maͤnner der
Art duͤnken ſich nicht dem einzelnen Staate, ſondern der
Welt, der Menſchheit zu leben. Aus derſelben Quelle fließt
auch auf dem Boden der Wiſſenſchaftlichen jenes oft ſo ſtolze
Überheben uͤber den Staat und den Bedarf deſſelben. Man
vernimmt zu Zeiten von einer Rechtsgelehrſamkeit, welche,
ſich ſelber Zweck, viel zu gut ſey fuͤr die Rechtsanwen-
dung, von einer Gegenwart, viel zu ſchlecht um verſtan-
den zu werden, von einer Hiſtorie, viel zu vornehm um
bis auf den heutigen Tag zu gehn. Vergeblich raͤth ſol-
chen Stimmungen der Dichter, das was in ſchwankender
Erſcheinung lebt durch dauernde Gedanken zu befeſtigen.
Thucydides ſtellte was ihn ſchmerzte uͤber Reue und Klage
hinaus in ſeiner Geſchichte auf; denn die Geſchichte iſt
immer groß, mag ihr naͤchſtes Ziel Untergang oder Auf-
gang ſeyn.
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