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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Blick auf d. Systematik d. Staatswissensch.
möge welcher jeder im Volke herrscht, welcher mächtig ist
und schützt und auch der Fürst bloß aus Privatrecht re-
giert, und lediglich seine eigene Sache besorgt, wenn er
es thut, nur dadurch sich unterscheidend, daß er zugleich
unabhängig ist. Dieser Ansicht läßt sich eine gewisse Farbe
geben, so lange der Fürst den Regierungsaufwand bloß
aus eigenen Mitteln bestreitet, sowie aber die Steuerwirth-
schaft ihren Anfang nimmt, was doch recht frühe geschieht,
verbleicht sie. Darum wird auch Englands Daseyn, als
ein politisch unerlaubtes, gänzlich in den Winkel gestellt
und der widersprechenden Geschichte ins Antlitz behauptet,
daß die Landstände von jeher bloß zum Rathfragen gedient
hätten. Das wäre nun wohl kein Fortschritt zu nennen,
wenn dem Trachten der Jakobiner, jedes Privatrecht durch
ein liberales Staatsrecht zu vernichten, die Lehre gegen-
überträte, alles vermeinte Staatsrecht sey bloß eine Ver-
schlingung von Privatrechten. Aber Haller vermag ein-
mahl nicht zu sehen, daß nicht Vorwitz und Unchristen-
thum, sondern der ganz natürliche Gang der Menschen-
bildung seit Jahrhunderten eine scharfe Sonderung von
Staats- und Privatrechten einleitet und den verschie-
denen Classen der Bevölkerung eine ganz veränderte und
gleichere Stellung gegen einander und nicht minder ihrer
Gesammtheit eine veränderte Stellung der Regierung ge-
genüber gegeben hat. Wäre denn aber das Revolution,
wenn das Zeitalter diese überlieferte, nicht willkührlich von
ihr hervorgerufene Ordnung nach ihren wahren Bedin-
gungen zu erforschen und weiter durchzubilden trachtet,
um nach den herben Früchten auch die süßen zu ko-
sten? Darum darf auch die neuere Legitimitäts-Lehre
(wir kommen weiter unten wohl dahin) den Stützen des
Hallerschen Systems nicht allzusehr vertrauen; die ächte

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Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
moͤge welcher jeder im Volke herrſcht, welcher maͤchtig iſt
und ſchuͤtzt und auch der Fuͤrſt bloß aus Privatrecht re-
giert, und lediglich ſeine eigene Sache beſorgt, wenn er
es thut, nur dadurch ſich unterſcheidend, daß er zugleich
unabhaͤngig iſt. Dieſer Anſicht laͤßt ſich eine gewiſſe Farbe
geben, ſo lange der Fuͤrſt den Regierungsaufwand bloß
aus eigenen Mitteln beſtreitet, ſowie aber die Steuerwirth-
ſchaft ihren Anfang nimmt, was doch recht fruͤhe geſchieht,
verbleicht ſie. Darum wird auch Englands Daſeyn, als
ein politiſch unerlaubtes, gaͤnzlich in den Winkel geſtellt
und der widerſprechenden Geſchichte ins Antlitz behauptet,
daß die Landſtaͤnde von jeher bloß zum Rathfragen gedient
haͤtten. Das waͤre nun wohl kein Fortſchritt zu nennen,
wenn dem Trachten der Jakobiner, jedes Privatrecht durch
ein liberales Staatsrecht zu vernichten, die Lehre gegen-
uͤbertraͤte, alles vermeinte Staatsrecht ſey bloß eine Ver-
ſchlingung von Privatrechten. Aber Haller vermag ein-
mahl nicht zu ſehen, daß nicht Vorwitz und Unchriſten-
thum, ſondern der ganz natuͤrliche Gang der Menſchen-
bildung ſeit Jahrhunderten eine ſcharfe Sonderung von
Staats- und Privatrechten einleitet und den verſchie-
denen Claſſen der Bevoͤlkerung eine ganz veraͤnderte und
gleichere Stellung gegen einander und nicht minder ihrer
Geſammtheit eine veraͤnderte Stellung der Regierung ge-
genuͤber gegeben hat. Waͤre denn aber das Revolution,
wenn das Zeitalter dieſe uͤberlieferte, nicht willkuͤhrlich von
ihr hervorgerufene Ordnung nach ihren wahren Bedin-
gungen zu erforſchen und weiter durchzubilden trachtet,
um nach den herben Fruͤchten auch die ſuͤßen zu ko-
ſten? Darum darf auch die neuere Legitimitaͤts-Lehre
(wir kommen weiter unten wohl dahin) den Stuͤtzen des
Hallerſchen Syſtems nicht allzuſehr vertrauen; die aͤchte

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[211/0223] Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch. moͤge welcher jeder im Volke herrſcht, welcher maͤchtig iſt und ſchuͤtzt und auch der Fuͤrſt bloß aus Privatrecht re- giert, und lediglich ſeine eigene Sache beſorgt, wenn er es thut, nur dadurch ſich unterſcheidend, daß er zugleich unabhaͤngig iſt. Dieſer Anſicht laͤßt ſich eine gewiſſe Farbe geben, ſo lange der Fuͤrſt den Regierungsaufwand bloß aus eigenen Mitteln beſtreitet, ſowie aber die Steuerwirth- ſchaft ihren Anfang nimmt, was doch recht fruͤhe geſchieht, verbleicht ſie. Darum wird auch Englands Daſeyn, als ein politiſch unerlaubtes, gaͤnzlich in den Winkel geſtellt und der widerſprechenden Geſchichte ins Antlitz behauptet, daß die Landſtaͤnde von jeher bloß zum Rathfragen gedient haͤtten. Das waͤre nun wohl kein Fortſchritt zu nennen, wenn dem Trachten der Jakobiner, jedes Privatrecht durch ein liberales Staatsrecht zu vernichten, die Lehre gegen- uͤbertraͤte, alles vermeinte Staatsrecht ſey bloß eine Ver- ſchlingung von Privatrechten. Aber Haller vermag ein- mahl nicht zu ſehen, daß nicht Vorwitz und Unchriſten- thum, ſondern der ganz natuͤrliche Gang der Menſchen- bildung ſeit Jahrhunderten eine ſcharfe Sonderung von Staats- und Privatrechten einleitet und den verſchie- denen Claſſen der Bevoͤlkerung eine ganz veraͤnderte und gleichere Stellung gegen einander und nicht minder ihrer Geſammtheit eine veraͤnderte Stellung der Regierung ge- genuͤber gegeben hat. Waͤre denn aber das Revolution, wenn das Zeitalter dieſe uͤberlieferte, nicht willkuͤhrlich von ihr hervorgerufene Ordnung nach ihren wahren Bedin- gungen zu erforſchen und weiter durchzubilden trachtet, um nach den herben Fruͤchten auch die ſuͤßen zu ko- ſten? Darum darf auch die neuere Legitimitaͤts-Lehre (wir kommen weiter unten wohl dahin) den Stuͤtzen des Hallerſchen Syſtems nicht allzuſehr vertrauen; die aͤchte 14*

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/223>, abgerufen am 22.11.2024.