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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Die Menschheit und der Staat.
worüber er kein Recht hat. Das ist der Ruhm und die
Gefahr der menschlichen Dinge, daß der Einzelne am Ende
unberechenbar gegen den Staat steht.

"Ueber die Seele kann und will Gott Niemand lassen regieren,
denn sich selbst allein."
Luther, von der Unterthanen Pflicht
gegen die Obrigkeit.

11. Der Staat inzwischen darf keine Macht in seinem
Innern gestatten, die sich gegen seine Rechtsanstalten er-
hebt. Der schlechte Staat bedient sich zu dem Ende ledig-
lich seiner Gewalt, verschlingt die Familie mit der Macht
seines Gesetzes, legt sich ein Obereigenthum bei, dringt
jeder Regel jede Ausnahme auf. Der gute Staat hinge-
gen, weit entfernt das Privat-Recht zu zerstören, stallt es
unter den Schutz des öffentlichen Rechts, und legt dem
Eigenthum und den Personen allein diejenigen Beschrän-
kungen auf, welche das öffentliche Wohl erfordert. Durch
diesen entscheidenden Schritt der Gewährleistung des Privat-
Rechts söhnt er das selbstständige Wesen der Familien mit
den Schuldigkeiten des Staatsrechtes aus, die Regierung
stellt sich hoch über der Bevölkerung auf; alle ferneren
Zwistigkeiten kämpfen sich in kleineren Kreisen durch, be-
drohen die Gesammt-Ordnung nicht.

12. Da die Menschheit kein anderes Daseyn hat als
dieses, welches im steten Entwickelungskampfe räumlich und
zeitlich begriffen, in unserer Geschichte vorliegt, so entbehrt
eine Darstellung des Staates, welche sich der historischen
Grundlagen entäußert, aller ernsten Belehrung, und gehört
den Phantasiespielen an. Der Idealist, zeit- und ortlos
hinstellend was den guten Staat bedeuten soll, löset Räthsel,
die er sich selber aufgegeben hat; er vollbringt mit Men-
schen, die es nie gegeben hat, die Aufstellung einer Gegen-

Die Menſchheit und der Staat.
woruͤber er kein Recht hat. Das iſt der Ruhm und die
Gefahr der menſchlichen Dinge, daß der Einzelne am Ende
unberechenbar gegen den Staat ſteht.

„Ueber die Seele kann und will Gott Niemand laſſen regieren,
denn ſich ſelbſt allein.“
Luther, von der Unterthanen Pflicht
gegen die Obrigkeit.

11. Der Staat inzwiſchen darf keine Macht in ſeinem
Innern geſtatten, die ſich gegen ſeine Rechtsanſtalten er-
hebt. Der ſchlechte Staat bedient ſich zu dem Ende ledig-
lich ſeiner Gewalt, verſchlingt die Familie mit der Macht
ſeines Geſetzes, legt ſich ein Obereigenthum bei, dringt
jeder Regel jede Ausnahme auf. Der gute Staat hinge-
gen, weit entfernt das Privat-Recht zu zerſtoͤren, ſtallt es
unter den Schutz des oͤffentlichen Rechts, und legt dem
Eigenthum und den Perſonen allein diejenigen Beſchraͤn-
kungen auf, welche das oͤffentliche Wohl erfordert. Durch
dieſen entſcheidenden Schritt der Gewaͤhrleiſtung des Privat-
Rechts ſoͤhnt er das ſelbſtſtaͤndige Weſen der Familien mit
den Schuldigkeiten des Staatsrechtes aus, die Regierung
ſtellt ſich hoch uͤber der Bevoͤlkerung auf; alle ferneren
Zwiſtigkeiten kaͤmpfen ſich in kleineren Kreiſen durch, be-
drohen die Geſammt-Ordnung nicht.

12. Da die Menſchheit kein anderes Daſeyn hat als
dieſes, welches im ſteten Entwickelungskampfe raͤumlich und
zeitlich begriffen, in unſerer Geſchichte vorliegt, ſo entbehrt
eine Darſtellung des Staates, welche ſich der hiſtoriſchen
Grundlagen entaͤußert, aller ernſten Belehrung, und gehoͤrt
den Phantaſieſpielen an. Der Idealiſt, zeit- und ortlos
hinſtellend was den guten Staat bedeuten ſoll, loͤſet Raͤthſel,
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ſchen, die es nie gegeben hat, die Aufſtellung einer Gegen-

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[7/0019] Die Menſchheit und der Staat. woruͤber er kein Recht hat. Das iſt der Ruhm und die Gefahr der menſchlichen Dinge, daß der Einzelne am Ende unberechenbar gegen den Staat ſteht. „Ueber die Seele kann und will Gott Niemand laſſen regieren, denn ſich ſelbſt allein.“ Luther, von der Unterthanen Pflicht gegen die Obrigkeit. 11. Der Staat inzwiſchen darf keine Macht in ſeinem Innern geſtatten, die ſich gegen ſeine Rechtsanſtalten er- hebt. Der ſchlechte Staat bedient ſich zu dem Ende ledig- lich ſeiner Gewalt, verſchlingt die Familie mit der Macht ſeines Geſetzes, legt ſich ein Obereigenthum bei, dringt jeder Regel jede Ausnahme auf. Der gute Staat hinge- gen, weit entfernt das Privat-Recht zu zerſtoͤren, ſtallt es unter den Schutz des oͤffentlichen Rechts, und legt dem Eigenthum und den Perſonen allein diejenigen Beſchraͤn- kungen auf, welche das oͤffentliche Wohl erfordert. Durch dieſen entſcheidenden Schritt der Gewaͤhrleiſtung des Privat- Rechts ſoͤhnt er das ſelbſtſtaͤndige Weſen der Familien mit den Schuldigkeiten des Staatsrechtes aus, die Regierung ſtellt ſich hoch uͤber der Bevoͤlkerung auf; alle ferneren Zwiſtigkeiten kaͤmpfen ſich in kleineren Kreiſen durch, be- drohen die Geſammt-Ordnung nicht. 12. Da die Menſchheit kein anderes Daſeyn hat als dieſes, welches im ſteten Entwickelungskampfe raͤumlich und zeitlich begriffen, in unſerer Geſchichte vorliegt, ſo entbehrt eine Darſtellung des Staates, welche ſich der hiſtoriſchen Grundlagen entaͤußert, aller ernſten Belehrung, und gehoͤrt den Phantaſieſpielen an. Der Idealiſt, zeit- und ortlos hinſtellend was den guten Staat bedeuten ſoll, loͤſet Raͤthſel, die er ſich ſelber aufgegeben hat; er vollbringt mit Men- ſchen, die es nie gegeben hat, die Aufſtellung einer Gegen-

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/19>, abgerufen am 29.03.2024.