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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Sechstes Capitel.
wäre denn, daß die Natur des Geschäftes eine Schranke
geböte. Tritt dieser Fall hier ein? Athen ist nicht durch
seine öffentlichen Wahlen der Volksherrschaft verfallen; es
gerieth dahin, als an die Stelle derselben mehr und mehr
das blinde Loos trat. Gabinius wollte den Einfluß der
Römischen Großen auf die Wahlen schwächen und seine
Tafeln halfen die Herrschaft einer bestochenen Volksmenge
gründen; denn die letzte Scham entwich 1). In England,
wo man mündlich stimmt, verspricht man sich neuerdings
von vielen Seiten Heil von der schriftlichen Abstimmung.
Allein in einem unter den vielgetadelten Einflüssen des
Geldes und der Gunst gewählten Parlament ist gleichwohl
die Reformbill durchgedrungen; eine Erfahrung, welche
hoffentlich genug vermögen wird, daß man die reifen
Früchte der Reformacte eine Weile abwartet, bevor man
dem Lord Durham in unvorsichtigen Änderungen folgt.
In Frankreich sind alle Partheien für das Geheimthum.
Wenn Herault Sechelle's Verfassung es noch ins Belieben
stellt, ob man geheim oder mündlich abstimme, so sind
Ludwig XVIII und Fürst Polignac und die Männer der
Charte von 1830 mit dem Geheimniß aller Wahlgeschäfte
einverstanden 2). Es liegt aber der Unterschied am Tage
zwischen Wahlen, die zum Geschäftsgange der Kammer
gehören und Wahlen, aus denen die Kammer selbst her-
vorgeht. Dort ist bereits Vertrauen gewährt, jedes Mit-
glied wird als würdig betrachtet und keine Wahl in der
Kammer entscheidet über einen Punkt des öffentlichen
Wohls; hier soll der Grund des Vertrauens erst gelegt
werden. In Hinsicht auf die Deutschen Wahlgesetze 3) mögen
Furcht vor den Umtrieben der Demagogen und Furcht vor
dem Einflusse der Beamten sich einander aufgewogen und
die allgemeine Scheu vor persönlichen Conflicten mag für

Sechstes Capitel.
waͤre denn, daß die Natur des Geſchaͤftes eine Schranke
geboͤte. Tritt dieſer Fall hier ein? Athen iſt nicht durch
ſeine oͤffentlichen Wahlen der Volksherrſchaft verfallen; es
gerieth dahin, als an die Stelle derſelben mehr und mehr
das blinde Loos trat. Gabinius wollte den Einfluß der
Roͤmiſchen Großen auf die Wahlen ſchwaͤchen und ſeine
Tafeln halfen die Herrſchaft einer beſtochenen Volksmenge
gruͤnden; denn die letzte Scham entwich 1). In England,
wo man muͤndlich ſtimmt, verſpricht man ſich neuerdings
von vielen Seiten Heil von der ſchriftlichen Abſtimmung.
Allein in einem unter den vielgetadelten Einfluͤſſen des
Geldes und der Gunſt gewaͤhlten Parlament iſt gleichwohl
die Reformbill durchgedrungen; eine Erfahrung, welche
hoffentlich genug vermoͤgen wird, daß man die reifen
Fruͤchte der Reformacte eine Weile abwartet, bevor man
dem Lord Durham in unvorſichtigen Änderungen folgt.
In Frankreich ſind alle Partheien fuͤr das Geheimthum.
Wenn Herault Sechelle’s Verfaſſung es noch ins Belieben
ſtellt, ob man geheim oder muͤndlich abſtimme, ſo ſind
Ludwig XVIII und Fuͤrſt Polignac und die Maͤnner der
Charte von 1830 mit dem Geheimniß aller Wahlgeſchaͤfte
einverſtanden 2). Es liegt aber der Unterſchied am Tage
zwiſchen Wahlen, die zum Geſchaͤftsgange der Kammer
gehoͤren und Wahlen, aus denen die Kammer ſelbſt her-
vorgeht. Dort iſt bereits Vertrauen gewaͤhrt, jedes Mit-
glied wird als wuͤrdig betrachtet und keine Wahl in der
Kammer entſcheidet uͤber einen Punkt des oͤffentlichen
Wohls; hier ſoll der Grund des Vertrauens erſt gelegt
werden. In Hinſicht auf die Deutſchen Wahlgeſetze 3) moͤgen
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dem Einfluſſe der Beamten ſich einander aufgewogen und
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[136/0148] Sechstes Capitel. waͤre denn, daß die Natur des Geſchaͤftes eine Schranke geboͤte. Tritt dieſer Fall hier ein? Athen iſt nicht durch ſeine oͤffentlichen Wahlen der Volksherrſchaft verfallen; es gerieth dahin, als an die Stelle derſelben mehr und mehr das blinde Loos trat. Gabinius wollte den Einfluß der Roͤmiſchen Großen auf die Wahlen ſchwaͤchen und ſeine Tafeln halfen die Herrſchaft einer beſtochenen Volksmenge gruͤnden; denn die letzte Scham entwich 1). In England, wo man muͤndlich ſtimmt, verſpricht man ſich neuerdings von vielen Seiten Heil von der ſchriftlichen Abſtimmung. Allein in einem unter den vielgetadelten Einfluͤſſen des Geldes und der Gunſt gewaͤhlten Parlament iſt gleichwohl die Reformbill durchgedrungen; eine Erfahrung, welche hoffentlich genug vermoͤgen wird, daß man die reifen Fruͤchte der Reformacte eine Weile abwartet, bevor man dem Lord Durham in unvorſichtigen Änderungen folgt. In Frankreich ſind alle Partheien fuͤr das Geheimthum. Wenn Herault Sechelle’s Verfaſſung es noch ins Belieben ſtellt, ob man geheim oder muͤndlich abſtimme, ſo ſind Ludwig XVIII und Fuͤrſt Polignac und die Maͤnner der Charte von 1830 mit dem Geheimniß aller Wahlgeſchaͤfte einverſtanden 2). Es liegt aber der Unterſchied am Tage zwiſchen Wahlen, die zum Geſchaͤftsgange der Kammer gehoͤren und Wahlen, aus denen die Kammer ſelbſt her- vorgeht. Dort iſt bereits Vertrauen gewaͤhrt, jedes Mit- glied wird als wuͤrdig betrachtet und keine Wahl in der Kammer entſcheidet uͤber einen Punkt des oͤffentlichen Wohls; hier ſoll der Grund des Vertrauens erſt gelegt werden. In Hinſicht auf die Deutſchen Wahlgeſetze 3) moͤgen Furcht vor den Umtrieben der Demagogen und Furcht vor dem Einfluſſe der Beamten ſich einander aufgewogen und die allgemeine Scheu vor perſoͤnlichen Conflicten mag fuͤr

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/148>, abgerufen am 07.05.2024.