Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechzig Jahre hat die indogermanische Sprachwissen-
schaft sich ebenmässig und ohne erhebliche innere Wider-
sprüche entwickelt. Zwar konnte es an Meinungsverschieden-
heiten nicht fehlen, die bei der Schwierigkeit der Probleme
und der Weitschichtigkeit des Materials wenig verwunderlich
sind, auch konnte der schärfer beobachtende wohl bei den
einzelnen Forschern verschiedene Auffassungen und Methoden
wahrnehmen, und es fehlte nicht an einem gesunden Fort-
schritt, durch welchen manche anfangs zu einer gewissen Gel-
tung gebrachte Ansicht später aufgegeben und manche Wahr-
heit erst mit der Zeit erkannt wurde. Aber niemals trat ein
förmlicher Bruch mit der Vergangenheit ein, mit verschwin-
dend kleinen Ausnahmen fehlte es an Gelehrten, die völlig
neue Bahnen im Gegensatz zu den betretenen empfahlen und
in Bezug auf wichtige Gebiete der Forschung Auffassungen
zur Geltung zu bringen suchten, welche den bis dahin herr-
schenden geradezu entgegengesetzt waren. Was derartiges
vorgebracht ward, verklang meistens bald gegenüber der laut
ausgesprochenen und festgehaltenen Uebereinstimmung der
weit überwiegenden Mehrzahl.

Im Jahre 1866 feierte unsre Wissenschaft in ungetheilter,
warmer Anerkennung ihres damals noch lebenden Begründers
Franz Bopp ihr fünfzigjähriges Bestehen, ohne dass dabei ein
principieller Gegensatz hervortrat. Zehn Jahre später lasen
wir zuerst von einer neuen oder jungen oder angeblich strenge-
ren Richtung, von der Notwendigkeit einer wesentlichen Ab-

Curtius, Zur Kritik. 1

Sechzig Jahre hat die indogermanische Sprachwissen-
schaft sich ebenmässig und ohne erhebliche innere Wider-
sprüche entwickelt. Zwar konnte es an Meinungsverschieden-
heiten nicht fehlen, die bei der Schwierigkeit der Probleme
und der Weitschichtigkeit des Materials wenig verwunderlich
sind, auch konnte der schärfer beobachtende wohl bei den
einzelnen Forschern verschiedene Auffassungen und Methoden
wahrnehmen, und es fehlte nicht an einem gesunden Fort-
schritt, durch welchen manche anfangs zu einer gewissen Gel-
tung gebrachte Ansicht später aufgegeben und manche Wahr-
heit erst mit der Zeit erkannt wurde. Aber niemals trat ein
förmlicher Bruch mit der Vergangenheit ein, mit verschwin-
dend kleinen Ausnahmen fehlte es an Gelehrten, die völlig
neue Bahnen im Gegensatz zu den betretenen empfahlen und
in Bezug auf wichtige Gebiete der Forschung Auffassungen
zur Geltung zu bringen suchten, welche den bis dahin herr-
schenden geradezu entgegengesetzt waren. Was derartiges
vorgebracht ward, verklang meistens bald gegenüber der laut
ausgesprochenen und festgehaltenen Uebereinstimmung der
weit überwiegenden Mehrzahl.

Im Jahre 1866 feierte unsre Wissenschaft in ungetheilter,
warmer Anerkennung ihres damals noch lebenden Begründers
Franz Bopp ihr fünfzigjähriges Bestehen, ohne dass dabei ein
principieller Gegensatz hervortrat. Zehn Jahre später lasen
wir zuerst von einer neuen oder jungen oder angeblich strenge-
ren Richtung, von der Notwendigkeit einer wesentlichen Ab-

Curtius, Zur Kritik. 1
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0009" n="[1]"/>
      <div n="1">
        <p><hi rendition="#in">S</hi>echzig Jahre hat die indogermanische Sprachwissen-<lb/>
schaft sich ebenmässig und ohne erhebliche innere Wider-<lb/>
sprüche entwickelt. Zwar konnte es an Meinungsverschieden-<lb/>
heiten nicht fehlen, die bei der Schwierigkeit der Probleme<lb/>
und der Weitschichtigkeit des Materials wenig verwunderlich<lb/>
sind, auch konnte der schärfer beobachtende wohl bei den<lb/>
einzelnen Forschern verschiedene Auffassungen und Methoden<lb/>
wahrnehmen, und es fehlte nicht an einem gesunden Fort-<lb/>
schritt, durch welchen manche anfangs zu einer gewissen Gel-<lb/>
tung gebrachte Ansicht später aufgegeben und manche Wahr-<lb/>
heit erst mit der Zeit erkannt wurde. Aber niemals trat ein<lb/>
förmlicher Bruch mit der Vergangenheit ein, mit verschwin-<lb/>
dend kleinen Ausnahmen fehlte es an Gelehrten, die völlig<lb/>
neue Bahnen im Gegensatz zu den betretenen empfahlen und<lb/>
in Bezug auf wichtige Gebiete der Forschung Auffassungen<lb/>
zur Geltung zu bringen suchten, welche den bis dahin herr-<lb/>
schenden geradezu entgegengesetzt waren. Was derartiges<lb/>
vorgebracht ward, verklang meistens bald gegenüber der laut<lb/>
ausgesprochenen und festgehaltenen Uebereinstimmung der<lb/>
weit überwiegenden Mehrzahl.</p><lb/>
        <p>Im Jahre 1866 feierte unsre Wissenschaft in ungetheilter,<lb/>
warmer Anerkennung ihres damals noch lebenden Begründers<lb/>
Franz Bopp ihr fünfzigjähriges Bestehen, ohne dass dabei ein<lb/>
principieller Gegensatz hervortrat. Zehn Jahre später lasen<lb/>
wir zuerst von einer neuen oder jungen oder angeblich strenge-<lb/>
ren Richtung, von der Notwendigkeit einer wesentlichen Ab-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Curtius</hi>, Zur Kritik. 1</fw><lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[1]/0009] Sechzig Jahre hat die indogermanische Sprachwissen- schaft sich ebenmässig und ohne erhebliche innere Wider- sprüche entwickelt. Zwar konnte es an Meinungsverschieden- heiten nicht fehlen, die bei der Schwierigkeit der Probleme und der Weitschichtigkeit des Materials wenig verwunderlich sind, auch konnte der schärfer beobachtende wohl bei den einzelnen Forschern verschiedene Auffassungen und Methoden wahrnehmen, und es fehlte nicht an einem gesunden Fort- schritt, durch welchen manche anfangs zu einer gewissen Gel- tung gebrachte Ansicht später aufgegeben und manche Wahr- heit erst mit der Zeit erkannt wurde. Aber niemals trat ein förmlicher Bruch mit der Vergangenheit ein, mit verschwin- dend kleinen Ausnahmen fehlte es an Gelehrten, die völlig neue Bahnen im Gegensatz zu den betretenen empfahlen und in Bezug auf wichtige Gebiete der Forschung Auffassungen zur Geltung zu bringen suchten, welche den bis dahin herr- schenden geradezu entgegengesetzt waren. Was derartiges vorgebracht ward, verklang meistens bald gegenüber der laut ausgesprochenen und festgehaltenen Uebereinstimmung der weit überwiegenden Mehrzahl. Im Jahre 1866 feierte unsre Wissenschaft in ungetheilter, warmer Anerkennung ihres damals noch lebenden Begründers Franz Bopp ihr fünfzigjähriges Bestehen, ohne dass dabei ein principieller Gegensatz hervortrat. Zehn Jahre später lasen wir zuerst von einer neuen oder jungen oder angeblich strenge- ren Richtung, von der Notwendigkeit einer wesentlichen Ab- Curtius, Zur Kritik. 1

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/9
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/9>, abgerufen am 21.11.2024.