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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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weichung von den bisher in weiten Kreisen angenommenen
Ansichten. Und seitdem haben diese neuen Ansichten sich
weiter verbreitet, vielfach lebhafte Zustimmung gefunden und
werden trotz der anfangs von manchen Seiten erhobenen Ein-
sprüche und trotz der keineswegs unerheblichen Gegensätze
zwischen denen, welche mitten in diesen Anschauungen stehen,
jetzt von manchen sogar -- ohne dass ein ernstlicher Kampf
der Meinungen stattgefunden hätte -- als die herrschenden
betrachtet, denen gegenüber die früher unbestritten geltenden
als veraltet bezeichnet werden. Bei dieser Frage nach dem,
was herrscht, vergisst man freilich leicht, dass die Zahl der
selbständigen Kenner dieser Gebiete überhaupt keine grosse
ist und dass es an mancherlei Widerspruch sehr competenter
Forscher keineswegs fehlt*). Auch hat nicht jeder Gelehrte
Neigung, an solchem Principienstreit sich zu betheiligen, zu-
mal auf der Seite der älteren Annahmen, und nicht wenige
frühere eifrige Mitarbeiter, namentlich fast alle die, deren
Hauptstärke im Sanskrit liegt, haben sich seit dem Aufkom-
men der neuen Meinungen von der Sprachforschung zurück-
gezogen. Im einzelnen werden wir wiederholt Gelegenheit
haben, der Zweifel und Gegensätze zu gedenken, denen wich-
tige Aufstellungen unter denen begegnen, welche im grossen
und ganzen zu den neuen Lehren sich halten.

Doch auf das, was herrscht, kommt es ja überhaupt wenig
an. Was heute viel gilt, kann bei dem Hin- und Herfluthen
der Meinungen auf den verschiedensten Gebieten morgen ver-
sunken und vergessen sein. Dem Wahne, dass das neueste
auch immer das beste, wahrscheinlichste, ja das absolut wahre
sei, wird sich ein ernster Mann der Wissenschaft doch nicht
hingeben wollen. Die Hauptfrage ist die, wo die Wahrheit

*) Ich verweise hier beispielsweise auf die feine Erörterung man-
cher hierher gehöriger Punkte von Ascoli in seiner Lettera glottologica
Torino 1881 gegenüber dem von jüngeren italienischen Gelehrten eifrig
bekämpften 'Decalogo dei Neogrammatici'.

weichung von den bisher in weiten Kreisen angenommenen
Ansichten. Und seitdem haben diese neuen Ansichten sich
weiter verbreitet, vielfach lebhafte Zustimmung gefunden und
werden trotz der anfangs von manchen Seiten erhobenen Ein-
sprüche und trotz der keineswegs unerheblichen Gegensätze
zwischen denen, welche mitten in diesen Anschauungen stehen,
jetzt von manchen sogar — ohne dass ein ernstlicher Kampf
der Meinungen stattgefunden hätte — als die herrschenden
betrachtet, denen gegenüber die früher unbestritten geltenden
als veraltet bezeichnet werden. Bei dieser Frage nach dem,
was herrscht, vergisst man freilich leicht, dass die Zahl der
selbständigen Kenner dieser Gebiete überhaupt keine grosse
ist und dass es an mancherlei Widerspruch sehr competenter
Forscher keineswegs fehlt*). Auch hat nicht jeder Gelehrte
Neigung, an solchem Principienstreit sich zu betheiligen, zu-
mal auf der Seite der älteren Annahmen, und nicht wenige
frühere eifrige Mitarbeiter, namentlich fast alle die, deren
Hauptstärke im Sanskrit liegt, haben sich seit dem Aufkom-
men der neuen Meinungen von der Sprachforschung zurück-
gezogen. Im einzelnen werden wir wiederholt Gelegenheit
haben, der Zweifel und Gegensätze zu gedenken, denen wich-
tige Aufstellungen unter denen begegnen, welche im grossen
und ganzen zu den neuen Lehren sich halten.

Doch auf das, was herrscht, kommt es ja überhaupt wenig
an. Was heute viel gilt, kann bei dem Hin- und Herfluthen
der Meinungen auf den verschiedensten Gebieten morgen ver-
sunken und vergessen sein. Dem Wahne, dass das neueste
auch immer das beste, wahrscheinlichste, ja das absolut wahre
sei, wird sich ein ernster Mann der Wissenschaft doch nicht
hingeben wollen. Die Hauptfrage ist die, wo die Wahrheit

*) Ich verweise hier beispielsweise auf die feine Erörterung man-
cher hierher gehöriger Punkte von Ascoli in seiner Lettera glottologica
Torino 1881 gegenüber dem von jüngeren italienischen Gelehrten eifrig
bekämpften ‘Decalogo dei Neogrammatici’.
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[2/0010] weichung von den bisher in weiten Kreisen angenommenen Ansichten. Und seitdem haben diese neuen Ansichten sich weiter verbreitet, vielfach lebhafte Zustimmung gefunden und werden trotz der anfangs von manchen Seiten erhobenen Ein- sprüche und trotz der keineswegs unerheblichen Gegensätze zwischen denen, welche mitten in diesen Anschauungen stehen, jetzt von manchen sogar — ohne dass ein ernstlicher Kampf der Meinungen stattgefunden hätte — als die herrschenden betrachtet, denen gegenüber die früher unbestritten geltenden als veraltet bezeichnet werden. Bei dieser Frage nach dem, was herrscht, vergisst man freilich leicht, dass die Zahl der selbständigen Kenner dieser Gebiete überhaupt keine grosse ist und dass es an mancherlei Widerspruch sehr competenter Forscher keineswegs fehlt *). Auch hat nicht jeder Gelehrte Neigung, an solchem Principienstreit sich zu betheiligen, zu- mal auf der Seite der älteren Annahmen, und nicht wenige frühere eifrige Mitarbeiter, namentlich fast alle die, deren Hauptstärke im Sanskrit liegt, haben sich seit dem Aufkom- men der neuen Meinungen von der Sprachforschung zurück- gezogen. Im einzelnen werden wir wiederholt Gelegenheit haben, der Zweifel und Gegensätze zu gedenken, denen wich- tige Aufstellungen unter denen begegnen, welche im grossen und ganzen zu den neuen Lehren sich halten. Doch auf das, was herrscht, kommt es ja überhaupt wenig an. Was heute viel gilt, kann bei dem Hin- und Herfluthen der Meinungen auf den verschiedensten Gebieten morgen ver- sunken und vergessen sein. Dem Wahne, dass das neueste auch immer das beste, wahrscheinlichste, ja das absolut wahre sei, wird sich ein ernster Mann der Wissenschaft doch nicht hingeben wollen. Die Hauptfrage ist die, wo die Wahrheit *) Ich verweise hier beispielsweise auf die feine Erörterung man- cher hierher gehöriger Punkte von Ascoli in seiner Lettera glottologica Torino 1881 gegenüber dem von jüngeren italienischen Gelehrten eifrig bekämpften ‘Decalogo dei Neogrammatici’.

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/10>, abgerufen am 28.03.2024.