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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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zeit" beweisen, so unbestreitbar sie sind, nicht das, was sie
beweisen sollen. Auch hat wohl niemand jemals etwas der
Art behauptet. Es sind hier zwei ganz verschiedene Dinge,
Bewusstsein des Ursprungs und Gefühl für die Bedeutung der
einzelnen Sprachform als eines ganzen, mit einander verwech-
selt. Ich finde mich in voller Uebereinstimmung mit dem
feinsinnigen italienischen Sprachforscher d'Ovidio, der sich in
seinem Aufsatz d'un recente libro di Delbrück S. 39 über diese
Frage ausspricht. Er behauptet z. B., dass noch der heutige
Italiener in Bezug auf die Form avrei zwar ohne gelehrte
Studien keine Ahnung davon habe, dass die Endung ei mit
avere zusammenhinge, wohl aber empfinde, dass in dieser
Endung die Bezeichnung des bedingten (la condizio-
nalita) liege, ebenso, dass er in der Form cresca das a als den
Träger des Conjunctivs wahrnehme. Auch der ungebildetste
Römer wird ebenso einen seiner Sprache unkundigen mit
Sicherheit corrigirt haben, der etwa crescat sagen wollte und
statt dessen etwa crescet sagte. Worauf anders als auf sol-
chem Sprachgefühl beruht es, dass jeder Volksgenosse den
stümpernden Ausländer verlacht oder verbessert? Für die
Annahme, dass die bedeutungsvolle Silbe sich nicht so leicht
verschiebt oder verändert wie die minder bedeutungsvolle,
spricht die Thatsache, dass die entschieden bedeutungsvoll-
sten Silben der Wörter, die Stammsilben, in weit geringerem
Masse der Analogiebildung unterworfen sind, als Präfixe und
Suffixe. Die romanische Form greve statt des lat. grave(m)
erklärt man aus einer Anlehnung an das Adjectiv entgegen-
gesetzter Bedeutung leve (Caroline Michaelis in der oben an-
geführten Schrift S. 35). Aber solche Wirkung der Analogie
ist jedenfalls eine sehr seltene, es ist ein Beispiel jener sun-
ekdrome kat' enantioteta
, von der wir S. 35 handelten. Ob
innerhalb des Griechischen und Lateinischen sich etwas ähn-
liches für eine Stammsilbe nachweisen lässt, ist mir zweifel-
haft, indess kleinere Umwandelungen zeigen sich wirklich

zeit“ beweisen, so unbestreitbar sie sind, nicht das, was sie
beweisen sollen. Auch hat wohl niemand jemals etwas der
Art behauptet. Es sind hier zwei ganz verschiedene Dinge,
Bewusstsein des Ursprungs und Gefühl für die Bedeutung der
einzelnen Sprachform als eines ganzen, mit einander verwech-
selt. Ich finde mich in voller Uebereinstimmung mit dem
feinsinnigen italienischen Sprachforscher d'Ovidio, der sich in
seinem Aufsatz d'un recente libro di Delbrück S. 39 über diese
Frage ausspricht. Er behauptet z. B., dass noch der heutige
Italiener in Bezug auf die Form avrei zwar ohne gelehrte
Studien keine Ahnung davon habe, dass die Endung ei mit
avere zusammenhinge, wohl aber empfinde, dass in dieser
Endung die Bezeichnung des bedingten (la condizio-
nalità) liege, ebenso, dass er in der Form cresca das a als den
Träger des Conjunctivs wahrnehme. Auch der ungebildetste
Römer wird ebenso einen seiner Sprache unkundigen mit
Sicherheit corrigirt haben, der etwa crescat sagen wollte und
statt dessen etwa crescet sagte. Worauf anders als auf sol-
chem Sprachgefühl beruht es, dass jeder Volksgenosse den
stümpernden Ausländer verlacht oder verbessert? Für die
Annahme, dass die bedeutungsvolle Silbe sich nicht so leicht
verschiebt oder verändert wie die minder bedeutungsvolle,
spricht die Thatsache, dass die entschieden bedeutungsvoll-
sten Silben der Wörter, die Stammsilben, in weit geringerem
Masse der Analogiebildung unterworfen sind, als Präfixe und
Suffixe. Die romanische Form greve statt des lat. grave(m)
erklärt man aus einer Anlehnung an das Adjectiv entgegen-
gesetzter Bedeutung leve (Caroline Michaelis in der oben an-
geführten Schrift S. 35). Aber solche Wirkung der Analogie
ist jedenfalls eine sehr seltene, es ist ein Beispiel jener συν-
εκδρομὴ κατ' ἐναντιότητα
, von der wir S. 35 handelten. Ob
innerhalb des Griechischen und Lateinischen sich etwas ähn-
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[72/0080] zeit“ beweisen, so unbestreitbar sie sind, nicht das, was sie beweisen sollen. Auch hat wohl niemand jemals etwas der Art behauptet. Es sind hier zwei ganz verschiedene Dinge, Bewusstsein des Ursprungs und Gefühl für die Bedeutung der einzelnen Sprachform als eines ganzen, mit einander verwech- selt. Ich finde mich in voller Uebereinstimmung mit dem feinsinnigen italienischen Sprachforscher d'Ovidio, der sich in seinem Aufsatz d'un recente libro di Delbrück S. 39 über diese Frage ausspricht. Er behauptet z. B., dass noch der heutige Italiener in Bezug auf die Form avrei zwar ohne gelehrte Studien keine Ahnung davon habe, dass die Endung ei mit avere zusammenhinge, wohl aber empfinde, dass in dieser Endung die Bezeichnung des bedingten (la condizio- nalità) liege, ebenso, dass er in der Form cresca das a als den Träger des Conjunctivs wahrnehme. Auch der ungebildetste Römer wird ebenso einen seiner Sprache unkundigen mit Sicherheit corrigirt haben, der etwa crescat sagen wollte und statt dessen etwa crescet sagte. Worauf anders als auf sol- chem Sprachgefühl beruht es, dass jeder Volksgenosse den stümpernden Ausländer verlacht oder verbessert? Für die Annahme, dass die bedeutungsvolle Silbe sich nicht so leicht verschiebt oder verändert wie die minder bedeutungsvolle, spricht die Thatsache, dass die entschieden bedeutungsvoll- sten Silben der Wörter, die Stammsilben, in weit geringerem Masse der Analogiebildung unterworfen sind, als Präfixe und Suffixe. Die romanische Form greve statt des lat. grave(m) erklärt man aus einer Anlehnung an das Adjectiv entgegen- gesetzter Bedeutung leve (Caroline Michaelis in der oben an- geführten Schrift S. 35). Aber solche Wirkung der Analogie ist jedenfalls eine sehr seltene, es ist ein Beispiel jener συν- εκδρομὴ κατ' ἐναντιότητα, von der wir S. 35 handelten. Ob innerhalb des Griechischen und Lateinischen sich etwas ähn- liches für eine Stammsilbe nachweisen lässt, ist mir zweifel- haft, indess kleinere Umwandelungen zeigen sich wirklich

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/80>, abgerufen am 25.11.2024.