Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

zunehmen, dass die Griechen und Inder noch ein Gefühl für
die Bedeutsamkeit des einzelnen Lautes in einer Sprachform
gehabt hätten, welches uns abhanden gekommen wäre". Ohne
dass ich zwischen den alten und neueren Sprachen in dieser
Beziehung einen wesentlichen Unterschied machen möchte,
scheint mir die Voraussetzung, dass ein Gefühl, wenn nicht
ein Bewusstsein, von der Bedeutung der Formen in den spre-
chenden vorhanden war, ganz unabweisbar. Wie wäre es
denkbar, dass die wesentlichen Kategorien der Sprache, also
z. B. die Formen der Casus, der Personen, der Modi sich trotz
einzelner Verschiebungen im grossen und ganzen unversehrt
durch so ungeheure Zeiträume erhalten hätten, ohne die Wir-
kung des Sprachgefühls, das alle diese Formen beherrschte
und sicher zu unterscheiden wusste ? Während ich also oben
S. 55 denen widersprechen musste, welche bei den sprechen-
den ein Gefühl für die Entstehung und die morphologische
Gliederung der Sprachformen, namentlich also für den Unter-
schied von Stamm und Endung voraussetzen, so muss ich
umgekehrt für die Bedeutung, das heisst für die syntak-
tische Verwendbarkeit der Formen, mit Entschiedenheit sol-
ches Gefühl annehmen. Auch ein nicht schulmässig gebildeter
Grieche des Alterthums wird gewusst haben, wann er podon,
wann er posi zu setzen hatte, wird lukou als denselben Casus
wie podos, wird doie als denselben Modus wie legoi empfun-
den haben u. s. w. Dass dieses Sprachgefühl aber nicht so
weit ging, den Ursprung der Formen zu erkennen, versteht
sich von selbst. Dieser Ursprung bietet ja auch für unsre
Wissenschaft die schwierigsten Probleme. Die Worte also,
die Delbrück hinzufügt, "denn auch ihnen [den alten Indern
und Griechen] waren wie uns von Generation zu Generation
nur fertige Sprachformen überliefert, und jene Urzeiten, in
denen die indogermanischen Formen nach der Bopp'schen An-
nahme aus bedeutsamen Elementen zusammengesetzt wurden,
lagen für sie nicht weniger wie für uns in dämmernder Vor-

zunehmen, dass die Griechen und Inder noch ein Gefühl für
die Bedeutsamkeit des einzelnen Lautes in einer Sprachform
gehabt hätten, welches uns abhanden gekommen wäre“. Ohne
dass ich zwischen den alten und neueren Sprachen in dieser
Beziehung einen wesentlichen Unterschied machen möchte,
scheint mir die Voraussetzung, dass ein Gefühl, wenn nicht
ein Bewusstsein, von der Bedeutung der Formen in den spre-
chenden vorhanden war, ganz unabweisbar. Wie wäre es
denkbar, dass die wesentlichen Kategorien der Sprache, also
z. B. die Formen der Casus, der Personen, der Modi sich trotz
einzelner Verschiebungen im grossen und ganzen unversehrt
durch so ungeheure Zeiträume erhalten hätten, ohne die Wir-
kung des Sprachgefühls, das alle diese Formen beherrschte
und sicher zu unterscheiden wusste ? Während ich also oben
S. 55 denen widersprechen musste, welche bei den sprechen-
den ein Gefühl für die Entstehung und die morphologische
Gliederung der Sprachformen, namentlich also für den Unter-
schied von Stamm und Endung voraussetzen, so muss ich
umgekehrt für die Bedeutung, das heisst für die syntak-
tische Verwendbarkeit der Formen, mit Entschiedenheit sol-
ches Gefühl annehmen. Auch ein nicht schulmässig gebildeter
Grieche des Alterthums wird gewusst haben, wann er ποδῶν,
wann er ποσί zu setzen hatte, wird λύκου als denselben Casus
wie ποδός, wird δοίη als denselben Modus wie λέγοι empfun-
den haben u. s. w. Dass dieses Sprachgefühl aber nicht so
weit ging, den Ursprung der Formen zu erkennen, versteht
sich von selbst. Dieser Ursprung bietet ja auch für unsre
Wissenschaft die schwierigsten Probleme. Die Worte also,
die Delbrück hinzufügt, „denn auch ihnen [den alten Indern
und Griechen] waren wie uns von Generation zu Generation
nur fertige Sprachformen überliefert, und jene Urzeiten, in
denen die indogermanischen Formen nach der Bopp'schen An-
nahme aus bedeutsamen Elementen zusammengesetzt wurden,
lagen für sie nicht weniger wie für uns in dämmernder Vor-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0079" n="71"/>
zunehmen, dass die Griechen und Inder noch ein Gefühl für<lb/>
die Bedeutsamkeit des einzelnen Lautes in einer Sprachform<lb/>
gehabt hätten, welches uns abhanden gekommen wäre&#x201C;.  Ohne<lb/>
dass ich zwischen den alten und neueren Sprachen in dieser<lb/>
Beziehung einen wesentlichen Unterschied machen möchte,<lb/>
scheint mir die Voraussetzung, dass ein Gefühl, wenn nicht<lb/>
ein Bewusstsein, von der Bedeutung der Formen in den spre-<lb/>
chenden vorhanden war, ganz unabweisbar. Wie wäre es<lb/>
denkbar, dass die wesentlichen Kategorien der Sprache, also<lb/>
z. B. die Formen der Casus, der Personen, der Modi sich trotz<lb/>
einzelner Verschiebungen im grossen und ganzen unversehrt<lb/>
durch so ungeheure Zeiträume erhalten hätten, ohne die Wir-<lb/>
kung des Sprachgefühls, das alle diese Formen beherrschte<lb/>
und sicher zu unterscheiden wusste ? Während ich also oben<lb/>
S. 55 denen widersprechen musste, welche bei den sprechen-<lb/>
den ein Gefühl für die Entstehung und die morphologische<lb/>
Gliederung der Sprachformen, namentlich also für den Unter-<lb/>
schied von Stamm und Endung voraussetzen, so muss ich<lb/>
umgekehrt für die <hi rendition="#g">Bedeutung</hi>, das heisst für die syntak-<lb/>
tische Verwendbarkeit der Formen, mit Entschiedenheit sol-<lb/>
ches Gefühl annehmen. Auch ein nicht schulmässig gebildeter<lb/>
Grieche des Alterthums wird gewusst haben, wann er <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C0;&#x03BF;&#x03B4;&#x1FF6;&#x03BD;</foreign></hi>,<lb/>
wann er <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C0;&#x03BF;&#x03C3;&#x03AF;</foreign></hi> zu setzen hatte, wird <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BB;&#x03CD;&#x03BA;&#x03BF;&#x03C5;</foreign></hi> als denselben Casus<lb/>
wie <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C0;&#x03BF;&#x03B4;&#x03CC;&#x03C2;</foreign></hi>, wird <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03B4;&#x03BF;&#x03AF;&#x03B7;</foreign></hi> als denselben Modus wie <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BB;&#x03AD;&#x03B3;&#x03BF;&#x03B9;</foreign></hi> empfun-<lb/>
den haben u. s. w. Dass dieses Sprachgefühl aber nicht so<lb/>
weit ging, den <hi rendition="#g">Ursprung</hi> der Formen zu erkennen, versteht<lb/>
sich von selbst. Dieser Ursprung bietet ja auch für unsre<lb/>
Wissenschaft die schwierigsten Probleme. Die Worte also,<lb/>
die Delbrück hinzufügt, &#x201E;denn auch ihnen [den alten Indern<lb/>
und Griechen] waren wie uns von Generation zu Generation<lb/>
nur fertige Sprachformen überliefert, und jene Urzeiten, in<lb/>
denen die indogermanischen Formen nach der Bopp'schen An-<lb/>
nahme aus bedeutsamen Elementen zusammengesetzt wurden,<lb/>
lagen für sie nicht weniger wie für uns in dämmernder Vor-<lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0079] zunehmen, dass die Griechen und Inder noch ein Gefühl für die Bedeutsamkeit des einzelnen Lautes in einer Sprachform gehabt hätten, welches uns abhanden gekommen wäre“. Ohne dass ich zwischen den alten und neueren Sprachen in dieser Beziehung einen wesentlichen Unterschied machen möchte, scheint mir die Voraussetzung, dass ein Gefühl, wenn nicht ein Bewusstsein, von der Bedeutung der Formen in den spre- chenden vorhanden war, ganz unabweisbar. Wie wäre es denkbar, dass die wesentlichen Kategorien der Sprache, also z. B. die Formen der Casus, der Personen, der Modi sich trotz einzelner Verschiebungen im grossen und ganzen unversehrt durch so ungeheure Zeiträume erhalten hätten, ohne die Wir- kung des Sprachgefühls, das alle diese Formen beherrschte und sicher zu unterscheiden wusste ? Während ich also oben S. 55 denen widersprechen musste, welche bei den sprechen- den ein Gefühl für die Entstehung und die morphologische Gliederung der Sprachformen, namentlich also für den Unter- schied von Stamm und Endung voraussetzen, so muss ich umgekehrt für die Bedeutung, das heisst für die syntak- tische Verwendbarkeit der Formen, mit Entschiedenheit sol- ches Gefühl annehmen. Auch ein nicht schulmässig gebildeter Grieche des Alterthums wird gewusst haben, wann er ποδῶν, wann er ποσί zu setzen hatte, wird λύκου als denselben Casus wie ποδός, wird δοίη als denselben Modus wie λέγοι empfun- den haben u. s. w. Dass dieses Sprachgefühl aber nicht so weit ging, den Ursprung der Formen zu erkennen, versteht sich von selbst. Dieser Ursprung bietet ja auch für unsre Wissenschaft die schwierigsten Probleme. Die Worte also, die Delbrück hinzufügt, „denn auch ihnen [den alten Indern und Griechen] waren wie uns von Generation zu Generation nur fertige Sprachformen überliefert, und jene Urzeiten, in denen die indogermanischen Formen nach der Bopp'schen An- nahme aus bedeutsamen Elementen zusammengesetzt wurden, lagen für sie nicht weniger wie für uns in dämmernder Vor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/79
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/79>, abgerufen am 22.11.2024.