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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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chischen und lateinischen Betonung" (Kuhn's Ztschr. Bd. IX
S. 328 ff.) bedient habe. Dort wird unter anderm gezeigt, dass
eine Reihe von Fällen, aus denen Corssen auf eine lateinische
Betonung der viertletzten Silbe glaubte schliessen zu können,
sich leichter dadurch erklärt, dass man eine Accentübertragung
annimmt, z. B. von denbes (aus denhibes), denbet (aus denhibet), de-
bemus
(aus dehibemus), debetis (aus dehibetis) auf debeo, das
längere Zeit noch durch denhibeo vertreten gewesen sein wird,
und ähnlich in andern Fällen, über welche die neuesten For-
scher nicht anders urtheilen werden. In Bezug auf Syntax ist
ein Beispiel fortwuchernder Analogie der weitere Gebrauch
des Acc. c. Inf., wie ich ihn Erläuter.3 199 ff. darstelle.

Dessen ungeachtet hat es zu keiner Zeit an Warnungen
und Bedenken gegen eine übertriebene und unüberlegte An-
wendung dieses Princips gefehlt. Und mit vollem Recht. Die
Annahme der Analogiewirkung in dem angegebenen Sinne
hat etwas uncontrolirbares. Sie kann leicht aufgestellt, aber
schwer wahrscheinlich gemacht und noch schwerer als die
einzig zulässige erwiesen werden *) Die Analogiebildung ist
nämlich an und für sich überall möglich, aber nirgends
nothwendig. Sie unterscheidet sich dadurch wesentlich von
allen Annahmen lautlichen Ueberganges, lautlichen Wegfalls
oder Zusatzes. Denn von ganz phantastischen und willkür-
lichen Lautbewegungen abgesehen, wie man sie in neuerer
Zeit selten aufgestellt hat, kann man sich bei der Annahme
von Lautbewegungen doch immer auf die Verwandtschaft der
Laute stützen, von denen man behauptet, dass der eine an
die Stelle des andern getreten sei, und was den Wegfall und
Zusatz betrifft, so hat man auch diese Erscheinung stets durch
entsprechende Erscheinungen im einzelnen zu begründen ge-

*) Victor Henry, ein eifriger Freund der neuesten deutschen Sprach-
studien , sagt dennoch in seiner Etude sur l'analogie S. 105 treffend:
"L'explication par l'analogie est toujours aisee; mais c'est precisement
parce qu'elle est trop aisee, qu'il s'en faut defier["].

chischen und lateinischen Betonung“ (Kuhn's Ztschr. Bd. IX
S. 328 ff.) bedient habe. Dort wird unter anderm gezeigt, dass
eine Reihe von Fällen, aus denen Corssen auf eine lateinische
Betonung der viertletzten Silbe glaubte schliessen zu können,
sich leichter dadurch erklärt, dass man eine Accentübertragung
annimmt, z. B. von dḗbes (aus dḗhibes), dḗbet (aus dḗhibet), de-
bémus
(aus dehibémus), debétis (aus dehibétis) auf débeo, das
längere Zeit noch durch dēhíbeo vertreten gewesen sein wird,
und ähnlich in andern Fällen, über welche die neuesten For-
scher nicht anders urtheilen werden. In Bezug auf Syntax ist
ein Beispiel fortwuchernder Analogie der weitere Gebrauch
des Acc. c. Inf., wie ich ihn Erläuter.³ 199 ff. darstelle.

Dessen ungeachtet hat es zu keiner Zeit an Warnungen
und Bedenken gegen eine übertriebene und unüberlegte An-
wendung dieses Princips gefehlt. Und mit vollem Recht. Die
Annahme der Analogiewirkung in dem angegebenen Sinne
hat etwas uncontrolirbares. Sie kann leicht aufgestellt, aber
schwer wahrscheinlich gemacht und noch schwerer als die
einzig zulässige erwiesen werden *) Die Analogiebildung ist
nämlich an und für sich überall möglich, aber nirgends
nothwendig. Sie unterscheidet sich dadurch wesentlich von
allen Annahmen lautlichen Ueberganges, lautlichen Wegfalls
oder Zusatzes. Denn von ganz phantastischen und willkür-
lichen Lautbewegungen abgesehen, wie man sie in neuerer
Zeit selten aufgestellt hat, kann man sich bei der Annahme
von Lautbewegungen doch immer auf die Verwandtschaft der
Laute stützen, von denen man behauptet, dass der eine an
die Stelle des andern getreten sei, und was den Wegfall und
Zusatz betrifft, so hat man auch diese Erscheinung stets durch
entsprechende Erscheinungen im einzelnen zu begründen ge-

*) Victor Henry, ein eifriger Freund der neuesten deutschen Sprach-
studien , sagt dennoch in seiner Étude sur l'analogie S. 105 treffend:
„L'explication par l'analogie est toujours aisée; mais c'est précisément
parce qu'elle est trop aisée, qu'il s'en faut défier[“].
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[39/0047] chischen und lateinischen Betonung“ (Kuhn's Ztschr. Bd. IX S. 328 ff.) bedient habe. Dort wird unter anderm gezeigt, dass eine Reihe von Fällen, aus denen Corssen auf eine lateinische Betonung der viertletzten Silbe glaubte schliessen zu können, sich leichter dadurch erklärt, dass man eine Accentübertragung annimmt, z. B. von dḗbes (aus dḗhibes), dḗbet (aus dḗhibet), de- bémus (aus dehibémus), debétis (aus dehibétis) auf débeo, das längere Zeit noch durch dēhíbeo vertreten gewesen sein wird, und ähnlich in andern Fällen, über welche die neuesten For- scher nicht anders urtheilen werden. In Bezug auf Syntax ist ein Beispiel fortwuchernder Analogie der weitere Gebrauch des Acc. c. Inf., wie ich ihn Erläuter.³ 199 ff. darstelle. Dessen ungeachtet hat es zu keiner Zeit an Warnungen und Bedenken gegen eine übertriebene und unüberlegte An- wendung dieses Princips gefehlt. Und mit vollem Recht. Die Annahme der Analogiewirkung in dem angegebenen Sinne hat etwas uncontrolirbares. Sie kann leicht aufgestellt, aber schwer wahrscheinlich gemacht und noch schwerer als die einzig zulässige erwiesen werden *) Die Analogiebildung ist nämlich an und für sich überall möglich, aber nirgends nothwendig. Sie unterscheidet sich dadurch wesentlich von allen Annahmen lautlichen Ueberganges, lautlichen Wegfalls oder Zusatzes. Denn von ganz phantastischen und willkür- lichen Lautbewegungen abgesehen, wie man sie in neuerer Zeit selten aufgestellt hat, kann man sich bei der Annahme von Lautbewegungen doch immer auf die Verwandtschaft der Laute stützen, von denen man behauptet, dass der eine an die Stelle des andern getreten sei, und was den Wegfall und Zusatz betrifft, so hat man auch diese Erscheinung stets durch entsprechende Erscheinungen im einzelnen zu begründen ge- *) Victor Henry, ein eifriger Freund der neuesten deutschen Sprach- studien , sagt dennoch in seiner Étude sur l'analogie S. 105 treffend: „L'explication par l'analogie est toujours aisée; mais c'est précisément parce qu'elle est trop aisée, qu'il s'en faut défier“.

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/47>, abgerufen am 28.03.2024.