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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
jene Muster entstanden sind, ihm unverstanden bleiben. Ihn
führt die Anschauung zur Forschung -- denn wie ein quälen¬
des Räthsel steht ihm jede Bildform des Alterthums gegenüber,
sei es ein Tempel, ein Götterbild oder ein Dreifuß, wenn er
nicht in das geistige Leben des Volks eindringt, aus welchem
diese Gestalten hervorgewachsen sind. So reichen sich bildende
Kunst und wissenschaftliche Forschung die Hand, und wenn sie
es thun in voller Erkenntniß des gemeinsamen Ziels und der
gegenseitigen Unentbehrlichkeit, so ist das eine Weihe von
Schinkel's Andenken und jede Frucht, die aus jener Verbindung
entspringt, ein Ehrenmal Schinkel's.

Aber nicht nur das Verhältniß der Gegenwart zum Alter¬
thume ist in unserer rastlos vorwärts jagenden Zeit ein viel¬
fach angefochtenes; den Begriff der hellenischen Cultur selbst
sehen wir bei der Erweiterung der Alterthumsstudien in Frage
gestellt.

Die alte Welt gleicht einem durch breite Meeresflächen
von uns getrennten Lande, dessen Küstenstriche und Inselgrup¬
pen bei fortschreitender Entdeckung zu einem immer größeren
und zusammenhängenderen Welttheile anwachsen. Ungenannte
Völker, unbekannte Stätten alter Geschichte treten nach ein¬
ander in unsern Gesichtskreis; unsere Vorstellung vom Alter¬
thume ist in steter Ausdehnung begriffen. Es liegt aber in
der Natur der Sache, daß man früher das Einzelne kennt,
als den Zusammenhang des Ganzen, und wie bei sinkendem
Nachtnebel erst die Höhen frei werden und inselartig neben
einander emporragen, während die Thalsenkungen lange im
Dunkel bleiben, so sind es auch die verschiedenen Culminationen
der antiken Cultur, welche völlig isolirt neben einander dazu¬
stehen schienen -- die asiatische, die ägyptische, die griechisch-
römische. Die zwischen liegenden Lücken füllte man mit solchen
Vorstellungen aus, wie sie gerade der wissenschaftlichen Stim¬
mung entsprachen. So lange die alte Geschichte ganz unter
dem Einflusse der Theologie stand, war man bemüht, Alles,
Worte wie Sachen, unmittelbar aus dem Oriente herzuleiten.
Später, als das Hellenische in seiner ganzen Eigenthümlichkeit

Die Kunſt der Hellenen.
jene Muſter entſtanden ſind, ihm unverſtanden bleiben. Ihn
führt die Anſchauung zur Forſchung — denn wie ein quälen¬
des Räthſel ſteht ihm jede Bildform des Alterthums gegenüber,
ſei es ein Tempel, ein Götterbild oder ein Dreifuß, wenn er
nicht in das geiſtige Leben des Volks eindringt, aus welchem
dieſe Geſtalten hervorgewachſen ſind. So reichen ſich bildende
Kunſt und wiſſenſchaftliche Forſchung die Hand, und wenn ſie
es thun in voller Erkenntniß des gemeinſamen Ziels und der
gegenſeitigen Unentbehrlichkeit, ſo iſt das eine Weihe von
Schinkel's Andenken und jede Frucht, die aus jener Verbindung
entſpringt, ein Ehrenmal Schinkel's.

Aber nicht nur das Verhältniß der Gegenwart zum Alter¬
thume iſt in unſerer raſtlos vorwärts jagenden Zeit ein viel¬
fach angefochtenes; den Begriff der helleniſchen Cultur ſelbſt
ſehen wir bei der Erweiterung der Alterthumsſtudien in Frage
geſtellt.

Die alte Welt gleicht einem durch breite Meeresflächen
von uns getrennten Lande, deſſen Küſtenſtriche und Inſelgrup¬
pen bei fortſchreitender Entdeckung zu einem immer größeren
und zuſammenhängenderen Welttheile anwachſen. Ungenannte
Völker, unbekannte Stätten alter Geſchichte treten nach ein¬
ander in unſern Geſichtskreis; unſere Vorſtellung vom Alter¬
thume iſt in ſteter Ausdehnung begriffen. Es liegt aber in
der Natur der Sache, daß man früher das Einzelne kennt,
als den Zuſammenhang des Ganzen, und wie bei ſinkendem
Nachtnebel erſt die Höhen frei werden und inſelartig neben
einander emporragen, während die Thalſenkungen lange im
Dunkel bleiben, ſo ſind es auch die verſchiedenen Culminationen
der antiken Cultur, welche völlig iſolirt neben einander dazu¬
ſtehen ſchienen — die aſiatiſche, die ägyptiſche, die griechiſch-
römiſche. Die zwiſchen liegenden Lücken füllte man mit ſolchen
Vorſtellungen aus, wie ſie gerade der wiſſenſchaftlichen Stim¬
mung entſprachen. So lange die alte Geſchichte ganz unter
dem Einfluſſe der Theologie ſtand, war man bemüht, Alles,
Worte wie Sachen, unmittelbar aus dem Oriente herzuleiten.
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[80/0096] Die Kunſt der Hellenen. jene Muſter entſtanden ſind, ihm unverſtanden bleiben. Ihn führt die Anſchauung zur Forſchung — denn wie ein quälen¬ des Räthſel ſteht ihm jede Bildform des Alterthums gegenüber, ſei es ein Tempel, ein Götterbild oder ein Dreifuß, wenn er nicht in das geiſtige Leben des Volks eindringt, aus welchem dieſe Geſtalten hervorgewachſen ſind. So reichen ſich bildende Kunſt und wiſſenſchaftliche Forſchung die Hand, und wenn ſie es thun in voller Erkenntniß des gemeinſamen Ziels und der gegenſeitigen Unentbehrlichkeit, ſo iſt das eine Weihe von Schinkel's Andenken und jede Frucht, die aus jener Verbindung entſpringt, ein Ehrenmal Schinkel's. Aber nicht nur das Verhältniß der Gegenwart zum Alter¬ thume iſt in unſerer raſtlos vorwärts jagenden Zeit ein viel¬ fach angefochtenes; den Begriff der helleniſchen Cultur ſelbſt ſehen wir bei der Erweiterung der Alterthumsſtudien in Frage geſtellt. Die alte Welt gleicht einem durch breite Meeresflächen von uns getrennten Lande, deſſen Küſtenſtriche und Inſelgrup¬ pen bei fortſchreitender Entdeckung zu einem immer größeren und zuſammenhängenderen Welttheile anwachſen. Ungenannte Völker, unbekannte Stätten alter Geſchichte treten nach ein¬ ander in unſern Geſichtskreis; unſere Vorſtellung vom Alter¬ thume iſt in ſteter Ausdehnung begriffen. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß man früher das Einzelne kennt, als den Zuſammenhang des Ganzen, und wie bei ſinkendem Nachtnebel erſt die Höhen frei werden und inſelartig neben einander emporragen, während die Thalſenkungen lange im Dunkel bleiben, ſo ſind es auch die verſchiedenen Culminationen der antiken Cultur, welche völlig iſolirt neben einander dazu¬ ſtehen ſchienen — die aſiatiſche, die ägyptiſche, die griechiſch- römiſche. Die zwiſchen liegenden Lücken füllte man mit ſolchen Vorſtellungen aus, wie ſie gerade der wiſſenſchaftlichen Stim¬ mung entſprachen. So lange die alte Geſchichte ganz unter dem Einfluſſe der Theologie ſtand, war man bemüht, Alles, Worte wie Sachen, unmittelbar aus dem Oriente herzuleiten. Später, als das Helleniſche in ſeiner ganzen Eigenthümlichkeit

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/96>, abgerufen am 23.11.2024.