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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der Weltgang der griechischen Cultur.
Anschauung der Antike. Wie im Mittelalter Palästina, so
wurde Rom und Hellas ein geweihtes Land, ein Ziel von
Pilgerfahrten, um auf dem Boden des Alterthums den Alten
selbst sich näher zu fühlen, und als auf dem Boden von Hellas
neues Leben sich regte, als von der Erhebung seiner jetzigen
Bewohner die Kunde zu uns herüberkam, welche Theilnahme
zeigte sich da in unserem Vaterlande! Kaum hat die Erhebung
eines deutschen Landes gegen fremden Zwang jemals solchen
Eifer hervorgerufen, und mit mehr Uneigennützigkeit, als die,
alten Philhellenen, welche zu ihrem eigenen Ruhme die Stadt
der Athener schmückten, gaben die neuen Philhellenen Gut und
Blut für die Wiederherstellung von Hellas.

Blicken wir zurück auf den Gang der hellenischen Cultur
und ihre Beziehung zu den verschiedenen Völkern. Die Bar¬
baren der alten Welt huldigten ihr, weil sie in derselben eine
Macht erkannten, welche ihnen zu äußeren Zwecken dienstbar
sein sollte; die Macedonier, weil sie die allgemeine Berechti¬
gung derselben erkannten und sich berufen fühlten, sie geltend
zu machen, die Römer, weil sie in dieser Cultur die Ergän¬
zung ihrer eigenen Nationalität fanden. Als sie dann in die
mittelalterliche Welt eintrat, fand sie Völker vor, deren ganze
Bildung auf einer Religion beruhte, welche ihr fremd und
unversöhnt gegenüberstand. Hier konnte sie unmöglich wieder
eine so allgemeine und unbedingte Geltung erlangen, wie es
in der alten Welt der Fall war, aber dennoch hat sie, je nach¬
dem sie lauter und rein oder aus getrübter Quelle, mit blinder
Anerkennung oder mit selbständiger Thätigkeit aufgenommen
worden ist, auf das geistige Leben der Völker einen sehr be¬
stimmenden Einfluß geübt. Nachdem unser Volk diesen Ein¬
fluß in den verschiedensten Formen an sich erfahren hat, liegt
ihm auch heute noch vor allen anderen die Aufgabe ob, in
Wissenschaft und Leben die wahre Bedeutung der griechischen
Cultur und ihr Verhältniß zur christlichen Bildung darzustellen.

Das Christenthum ist gewiß berufen, die Welt zu über¬
winden, auch die heidnische Welt, also auch das, was in uns
von vorchristlicher Bildung ist. Aber diese Ueberwindung soll

Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
Anſchauung der Antike. Wie im Mittelalter Paläſtina, ſo
wurde Rom und Hellas ein geweihtes Land, ein Ziel von
Pilgerfahrten, um auf dem Boden des Alterthums den Alten
ſelbſt ſich näher zu fühlen, und als auf dem Boden von Hellas
neues Leben ſich regte, als von der Erhebung ſeiner jetzigen
Bewohner die Kunde zu uns herüberkam, welche Theilnahme
zeigte ſich da in unſerem Vaterlande! Kaum hat die Erhebung
eines deutſchen Landes gegen fremden Zwang jemals ſolchen
Eifer hervorgerufen, und mit mehr Uneigennützigkeit, als die,
alten Philhellenen, welche zu ihrem eigenen Ruhme die Stadt
der Athener ſchmückten, gaben die neuen Philhellenen Gut und
Blut für die Wiederherſtellung von Hellas.

Blicken wir zurück auf den Gang der helleniſchen Cultur
und ihre Beziehung zu den verſchiedenen Völkern. Die Bar¬
baren der alten Welt huldigten ihr, weil ſie in derſelben eine
Macht erkannten, welche ihnen zu äußeren Zwecken dienſtbar
ſein ſollte; die Macedonier, weil ſie die allgemeine Berechti¬
gung derſelben erkannten und ſich berufen fühlten, ſie geltend
zu machen, die Römer, weil ſie in dieſer Cultur die Ergän¬
zung ihrer eigenen Nationalität fanden. Als ſie dann in die
mittelalterliche Welt eintrat, fand ſie Völker vor, deren ganze
Bildung auf einer Religion beruhte, welche ihr fremd und
unverſöhnt gegenüberſtand. Hier konnte ſie unmöglich wieder
eine ſo allgemeine und unbedingte Geltung erlangen, wie es
in der alten Welt der Fall war, aber dennoch hat ſie, je nach¬
dem ſie lauter und rein oder aus getrübter Quelle, mit blinder
Anerkennung oder mit ſelbſtändiger Thätigkeit aufgenommen
worden iſt, auf das geiſtige Leben der Völker einen ſehr be¬
ſtimmenden Einfluß geübt. Nachdem unſer Volk dieſen Ein¬
fluß in den verſchiedenſten Formen an ſich erfahren hat, liegt
ihm auch heute noch vor allen anderen die Aufgabe ob, in
Wiſſenſchaft und Leben die wahre Bedeutung der griechiſchen
Cultur und ihr Verhältniß zur chriſtlichen Bildung darzuſtellen.

Das Chriſtenthum iſt gewiß berufen, die Welt zu über¬
winden, auch die heidniſche Welt, alſo auch das, was in uns
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[75/0091] Der Weltgang der griechiſchen Cultur. Anſchauung der Antike. Wie im Mittelalter Paläſtina, ſo wurde Rom und Hellas ein geweihtes Land, ein Ziel von Pilgerfahrten, um auf dem Boden des Alterthums den Alten ſelbſt ſich näher zu fühlen, und als auf dem Boden von Hellas neues Leben ſich regte, als von der Erhebung ſeiner jetzigen Bewohner die Kunde zu uns herüberkam, welche Theilnahme zeigte ſich da in unſerem Vaterlande! Kaum hat die Erhebung eines deutſchen Landes gegen fremden Zwang jemals ſolchen Eifer hervorgerufen, und mit mehr Uneigennützigkeit, als die, alten Philhellenen, welche zu ihrem eigenen Ruhme die Stadt der Athener ſchmückten, gaben die neuen Philhellenen Gut und Blut für die Wiederherſtellung von Hellas. Blicken wir zurück auf den Gang der helleniſchen Cultur und ihre Beziehung zu den verſchiedenen Völkern. Die Bar¬ baren der alten Welt huldigten ihr, weil ſie in derſelben eine Macht erkannten, welche ihnen zu äußeren Zwecken dienſtbar ſein ſollte; die Macedonier, weil ſie die allgemeine Berechti¬ gung derſelben erkannten und ſich berufen fühlten, ſie geltend zu machen, die Römer, weil ſie in dieſer Cultur die Ergän¬ zung ihrer eigenen Nationalität fanden. Als ſie dann in die mittelalterliche Welt eintrat, fand ſie Völker vor, deren ganze Bildung auf einer Religion beruhte, welche ihr fremd und unverſöhnt gegenüberſtand. Hier konnte ſie unmöglich wieder eine ſo allgemeine und unbedingte Geltung erlangen, wie es in der alten Welt der Fall war, aber dennoch hat ſie, je nach¬ dem ſie lauter und rein oder aus getrübter Quelle, mit blinder Anerkennung oder mit ſelbſtändiger Thätigkeit aufgenommen worden iſt, auf das geiſtige Leben der Völker einen ſehr be¬ ſtimmenden Einfluß geübt. Nachdem unſer Volk dieſen Ein¬ fluß in den verſchiedenſten Formen an ſich erfahren hat, liegt ihm auch heute noch vor allen anderen die Aufgabe ob, in Wiſſenſchaft und Leben die wahre Bedeutung der griechiſchen Cultur und ihr Verhältniß zur chriſtlichen Bildung darzuſtellen. Das Chriſtenthum iſt gewiß berufen, die Welt zu über¬ winden, auch die heidniſche Welt, alſo auch das, was in uns von vorchriſtlicher Bildung iſt. Aber dieſe Ueberwindung ſoll

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/91>, abgerufen am 23.11.2024.