Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Der Weltgang der griechischen Cultur. sie geht in jeder Richtung über die scharf gezogenen Gränzen derStaatengeschichte hinaus. Völker, welche nach geschichtlicher Ueberlieferung in keinerlei Beziehung zu einander gestanden haben, treten wie zu einem engen Familienkreise zusammen. Man erforscht mit einem Eifer, welcher fast den Sinn für das Eigenthümliche der einzelnen Völker abzustumpfen droht, die gemeinsamen Sagen und Sitten der indogermanischen Nationen und sucht dann wiederum die kreuzenden Einflüsse, welche aus der Vermischung verschiedener Völkerfamilien hervorgehen, nachzuweisen. Die Culturgeschichte geht aber nicht nur über die historischen Anfänge der Völker zurück, sondern auch über die Schlußpunkte der Staatengeschichte hinaus und begleitet die Bildung, welche ein Volk im Verlaufe seiner Geschichte erworben hat, auf ihrer Wanderung zu anderen Völkern. Hier gerade treten uns am deutlichsten die Spuren eines großen Zusammenhangs, eines geschichtlichen Organismus entgegen. Nirgends ist das Verhältniß von Staaten- und Cultur¬ Der Weltgang der griechiſchen Cultur. ſie geht in jeder Richtung über die ſcharf gezogenen Gränzen derStaatengeſchichte hinaus. Völker, welche nach geſchichtlicher Ueberlieferung in keinerlei Beziehung zu einander geſtanden haben, treten wie zu einem engen Familienkreiſe zuſammen. Man erforſcht mit einem Eifer, welcher faſt den Sinn für das Eigenthümliche der einzelnen Völker abzuſtumpfen droht, die gemeinſamen Sagen und Sitten der indogermaniſchen Nationen und ſucht dann wiederum die kreuzenden Einflüſſe, welche aus der Vermiſchung verſchiedener Völkerfamilien hervorgehen, nachzuweiſen. Die Culturgeſchichte geht aber nicht nur über die hiſtoriſchen Anfänge der Völker zurück, ſondern auch über die Schlußpunkte der Staatengeſchichte hinaus und begleitet die Bildung, welche ein Volk im Verlaufe ſeiner Geſchichte erworben hat, auf ihrer Wanderung zu anderen Völkern. Hier gerade treten uns am deutlichſten die Spuren eines großen Zuſammenhangs, eines geſchichtlichen Organismus entgegen. Nirgends iſt das Verhältniß von Staaten- und Cultur¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0077" n="61"/><fw place="top" type="header">Der Weltgang der griechiſchen Cultur.<lb/></fw> ſie geht in jeder Richtung über die ſcharf gezogenen Gränzen der<lb/> Staatengeſchichte hinaus. Völker, welche nach geſchichtlicher<lb/> Ueberlieferung in keinerlei Beziehung zu einander geſtanden<lb/> haben, treten wie zu einem engen Familienkreiſe zuſammen.<lb/> Man erforſcht mit einem Eifer, welcher faſt den Sinn für das<lb/> Eigenthümliche der einzelnen Völker abzuſtumpfen droht, die<lb/> gemeinſamen Sagen und Sitten der indogermaniſchen Nationen<lb/> und ſucht dann wiederum die kreuzenden Einflüſſe, welche aus<lb/> der Vermiſchung verſchiedener Völkerfamilien hervorgehen,<lb/> nachzuweiſen. Die Culturgeſchichte geht aber nicht nur über<lb/> die hiſtoriſchen Anfänge der Völker zurück, ſondern auch über<lb/> die Schlußpunkte der Staatengeſchichte hinaus und begleitet<lb/> die Bildung, welche ein Volk im Verlaufe ſeiner Geſchichte<lb/> erworben hat, auf ihrer Wanderung zu anderen Völkern.<lb/> Hier gerade treten uns am deutlichſten die Spuren eines<lb/> großen Zuſammenhangs, eines geſchichtlichen Organismus<lb/> entgegen.</p><lb/> <p>Nirgends iſt das Verhältniß von Staaten- und Cultur¬<lb/> geſchichte merkwürdiger, als in Griechenland. Einerſeits ſind<lb/> ſie beide auf das Engſte mit einander verbunden; denn nirgends<lb/> iſt die Cultur eines Volks im Staate, in der Religion, in<lb/> Kunſt und Wiſſenſchaft ſo ſcharf ausgeprägt wie bei den Hel¬<lb/> lenen. Keine Cultur — ich rede von der höhern Geiſtes¬<lb/> bildung — tritt uns ſo urſprünglich und volksthümlich ent¬<lb/> gegen wie die griechiſche. Andererſeits hat ſie ſich ſo von<lb/> ihrem Volke abgelöſt und ſteht in einem ſo weltgeſchichtlichen<lb/> Zuſammenhange, daß ſie nicht einer Nation, ſondern der<lb/> Menſchheit anzugehören ſcheint. Es iſt, als ob für ſie, nicht<lb/> für ſich das Volk gelebt habe. Darum knüpft ſich auch an<lb/> ſeine äußere Geſchichte kein höheres Intereſſe, als daß ſie<lb/> uns nachweiſt, unter welchen Verhältniſſen ſolche Ergebniſſe<lb/> innerer Entwickelung zur Reife kommen konnten. Ja es tritt<lb/> erſt nach Abſchluß der Staatengeſchichte, nach dem politiſchen<lb/> Tode des Griechenvolks die wahre Macht deſſelben zu Tage,<lb/> indem ſein unſterblicher Theil, das iſt ſeine geiſtige Bildung,<lb/> durch den Abbruch hinfälliger Formen zu frei wirkender Geltung<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [61/0077]
Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
ſie geht in jeder Richtung über die ſcharf gezogenen Gränzen der
Staatengeſchichte hinaus. Völker, welche nach geſchichtlicher
Ueberlieferung in keinerlei Beziehung zu einander geſtanden
haben, treten wie zu einem engen Familienkreiſe zuſammen.
Man erforſcht mit einem Eifer, welcher faſt den Sinn für das
Eigenthümliche der einzelnen Völker abzuſtumpfen droht, die
gemeinſamen Sagen und Sitten der indogermaniſchen Nationen
und ſucht dann wiederum die kreuzenden Einflüſſe, welche aus
der Vermiſchung verſchiedener Völkerfamilien hervorgehen,
nachzuweiſen. Die Culturgeſchichte geht aber nicht nur über
die hiſtoriſchen Anfänge der Völker zurück, ſondern auch über
die Schlußpunkte der Staatengeſchichte hinaus und begleitet
die Bildung, welche ein Volk im Verlaufe ſeiner Geſchichte
erworben hat, auf ihrer Wanderung zu anderen Völkern.
Hier gerade treten uns am deutlichſten die Spuren eines
großen Zuſammenhangs, eines geſchichtlichen Organismus
entgegen.
Nirgends iſt das Verhältniß von Staaten- und Cultur¬
geſchichte merkwürdiger, als in Griechenland. Einerſeits ſind
ſie beide auf das Engſte mit einander verbunden; denn nirgends
iſt die Cultur eines Volks im Staate, in der Religion, in
Kunſt und Wiſſenſchaft ſo ſcharf ausgeprägt wie bei den Hel¬
lenen. Keine Cultur — ich rede von der höhern Geiſtes¬
bildung — tritt uns ſo urſprünglich und volksthümlich ent¬
gegen wie die griechiſche. Andererſeits hat ſie ſich ſo von
ihrem Volke abgelöſt und ſteht in einem ſo weltgeſchichtlichen
Zuſammenhange, daß ſie nicht einer Nation, ſondern der
Menſchheit anzugehören ſcheint. Es iſt, als ob für ſie, nicht
für ſich das Volk gelebt habe. Darum knüpft ſich auch an
ſeine äußere Geſchichte kein höheres Intereſſe, als daß ſie
uns nachweiſt, unter welchen Verhältniſſen ſolche Ergebniſſe
innerer Entwickelung zur Reife kommen konnten. Ja es tritt
erſt nach Abſchluß der Staatengeſchichte, nach dem politiſchen
Tode des Griechenvolks die wahre Macht deſſelben zu Tage,
indem ſein unſterblicher Theil, das iſt ſeine geiſtige Bildung,
durch den Abbruch hinfälliger Formen zu frei wirkender Geltung
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