wir diesen Genuß des inneren Verkehrs gekostet, so erhalten nun auch alle äußeren Thatsachen, welche bis dahin nur die Neugierde befriedigen konnten, eine tiefere Bedeutung für uns.
Ebenso ist es mit der Völkergeschichte. Die Völker sind ja auch in gewissem Sinne Individuen; es sind geschicht¬ liche Persönlichkeiten, welche unter dem Einflusse unendlich vieler Bestimmungen äußerer und innerer Art ihr eigenthüm¬ liches Gepräge erhalten haben, und das, was am Ende doch unser höchstes Interesse in Anspruch nimmt, ist das Verständ¬ niß ihres Charakters. Die Wissenschaft sucht dieses Interesse zu befriedigen, und wie der Naturforscher von dem Aeußeren der Pflanze auf die verborgene Bewegung ihrer Säfte, von dem Gliederbau des Thierkörpers auf den innerlichen Lebens¬ proceß übergeht, so dringt auch der Historiker immer mehr von außen nach innen vor, um in der Mannigfaltigkeit der Ereignisse den einheitlichen Zusammenhang, in dem Geschehen das Werden, in den Erscheinungen die wirkenden Kräfte zu erkennen. Aber bei der geschichtlichen Entwickelung sind keine Gesetze mathematischer oder physikalischer Art nachzuweisen; hier lassen sich die Faktoren nicht zu Formeln verbinden, welche den Schlüssel des Verständnisses bilden; wir stehen auf dem Gebiete sittlicher Freiheit. Darin liegt der große Reiz, aber auch die unendliche Schwierigkeit derjenigen historischen Forschung, welche wir die culturgeschichtliche nennen können.
Sie ist in wesentlichen Punkten von der äußeren Geschichte unterschieden. Sie ist arm an Quellen; denn nur die äußeren Thatsachen, welche Aufsehen erregen, werden von den Zeitge¬ nossen bezeugt und dem Gedächtnisse der Nachkommen aufbe¬ wahrt, aber nicht die täglichen Lebensgewohnheiten. Im Stillen, allmählich und unbewußt vollzieht sich die innere Ent¬ wickelung der Völker; die wichtigsten Einflüsse sind vollendet, wenn das Selbstbewußtsein erwacht, und was an Denkmälern alter Cultur erhalten ist, kann wohl von den Höhenpunkten gewisser Richtungen, aber nicht von dem bis dahin zurückge¬ legten Wege Zeugniß geben.
Die Culturgeschichte hat aber noch ganz andere Gebiete;
Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
wir dieſen Genuß des inneren Verkehrs gekoſtet, ſo erhalten nun auch alle äußeren Thatſachen, welche bis dahin nur die Neugierde befriedigen konnten, eine tiefere Bedeutung für uns.
Ebenſo iſt es mit der Völkergeſchichte. Die Völker ſind ja auch in gewiſſem Sinne Individuen; es ſind geſchicht¬ liche Perſönlichkeiten, welche unter dem Einfluſſe unendlich vieler Beſtimmungen äußerer und innerer Art ihr eigenthüm¬ liches Gepräge erhalten haben, und das, was am Ende doch unſer höchſtes Intereſſe in Anſpruch nimmt, iſt das Verſtänd¬ niß ihres Charakters. Die Wiſſenſchaft ſucht dieſes Intereſſe zu befriedigen, und wie der Naturforſcher von dem Aeußeren der Pflanze auf die verborgene Bewegung ihrer Säfte, von dem Gliederbau des Thierkörpers auf den innerlichen Lebens¬ proceß übergeht, ſo dringt auch der Hiſtoriker immer mehr von außen nach innen vor, um in der Mannigfaltigkeit der Ereigniſſe den einheitlichen Zuſammenhang, in dem Geſchehen das Werden, in den Erſcheinungen die wirkenden Kräfte zu erkennen. Aber bei der geſchichtlichen Entwickelung ſind keine Geſetze mathematiſcher oder phyſikaliſcher Art nachzuweiſen; hier laſſen ſich die Faktoren nicht zu Formeln verbinden, welche den Schlüſſel des Verſtändniſſes bilden; wir ſtehen auf dem Gebiete ſittlicher Freiheit. Darin liegt der große Reiz, aber auch die unendliche Schwierigkeit derjenigen hiſtoriſchen Forſchung, welche wir die culturgeſchichtliche nennen können.
Sie iſt in weſentlichen Punkten von der äußeren Geſchichte unterſchieden. Sie iſt arm an Quellen; denn nur die äußeren Thatſachen, welche Aufſehen erregen, werden von den Zeitge¬ noſſen bezeugt und dem Gedächtniſſe der Nachkommen aufbe¬ wahrt, aber nicht die täglichen Lebensgewohnheiten. Im Stillen, allmählich und unbewußt vollzieht ſich die innere Ent¬ wickelung der Völker; die wichtigſten Einflüſſe ſind vollendet, wenn das Selbſtbewußtſein erwacht, und was an Denkmälern alter Cultur erhalten iſt, kann wohl von den Höhenpunkten gewiſſer Richtungen, aber nicht von dem bis dahin zurückge¬ legten Wege Zeugniß geben.
Die Culturgeſchichte hat aber noch ganz andere Gebiete;
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Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
wir dieſen Genuß des inneren Verkehrs gekoſtet, ſo erhalten
nun auch alle äußeren Thatſachen, welche bis dahin nur die
Neugierde befriedigen konnten, eine tiefere Bedeutung für uns.
Ebenſo iſt es mit der Völkergeſchichte. Die Völker ſind
ja auch in gewiſſem Sinne Individuen; es ſind geſchicht¬
liche Perſönlichkeiten, welche unter dem Einfluſſe unendlich
vieler Beſtimmungen äußerer und innerer Art ihr eigenthüm¬
liches Gepräge erhalten haben, und das, was am Ende doch
unſer höchſtes Intereſſe in Anſpruch nimmt, iſt das Verſtänd¬
niß ihres Charakters. Die Wiſſenſchaft ſucht dieſes Intereſſe
zu befriedigen, und wie der Naturforſcher von dem Aeußeren
der Pflanze auf die verborgene Bewegung ihrer Säfte, von
dem Gliederbau des Thierkörpers auf den innerlichen Lebens¬
proceß übergeht, ſo dringt auch der Hiſtoriker immer mehr
von außen nach innen vor, um in der Mannigfaltigkeit der
Ereigniſſe den einheitlichen Zuſammenhang, in dem Geſchehen
das Werden, in den Erſcheinungen die wirkenden Kräfte zu
erkennen. Aber bei der geſchichtlichen Entwickelung ſind keine
Geſetze mathematiſcher oder phyſikaliſcher Art nachzuweiſen;
hier laſſen ſich die Faktoren nicht zu Formeln verbinden,
welche den Schlüſſel des Verſtändniſſes bilden; wir ſtehen auf
dem Gebiete ſittlicher Freiheit. Darin liegt der große Reiz,
aber auch die unendliche Schwierigkeit derjenigen hiſtoriſchen
Forſchung, welche wir die culturgeſchichtliche nennen können.
Sie iſt in weſentlichen Punkten von der äußeren Geſchichte
unterſchieden. Sie iſt arm an Quellen; denn nur die äußeren
Thatſachen, welche Aufſehen erregen, werden von den Zeitge¬
noſſen bezeugt und dem Gedächtniſſe der Nachkommen aufbe¬
wahrt, aber nicht die täglichen Lebensgewohnheiten. Im
Stillen, allmählich und unbewußt vollzieht ſich die innere Ent¬
wickelung der Völker; die wichtigſten Einflüſſe ſind vollendet,
wenn das Selbſtbewußtſein erwacht, und was an Denkmälern
alter Cultur erhalten iſt, kann wohl von den Höhenpunkten
gewiſſer Richtungen, aber nicht von dem bis dahin zurückge¬
legten Wege Zeugniß geben.
Die Culturgeſchichte hat aber noch ganz andere Gebiete;
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/76>, abgerufen am 22.07.2024.
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