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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Rom und die Deutschen.
licher Interessen und Rücksichten, welche in der Heimath den
Menschen umsponnen halten. Ist doch die Ueberschätzung
dieser Dinge noch eine Schwäche der Deutschen, mit ihrem
kleinbürgerlichen Standesgeiste verbunden. Der Eine fühlt
sich vor Allem als Beamten, der Andere als Gelehrten, der
Dritte als Soldat. Das verschwindet an einem Orte wie
Rom; die Nebendinge werden gleichgültig, das wahrhaft
Große und Bedeutende wächst unmittelbar an den Menschen
heran, das Bewußtsein erweitert sich, man fühlt sich von der
Würde der Gegenstände getragen; es tritt eine Stille ein,
welche versöhnend, befreiend, heilend wirkt, wie es Goethe
empfand, der seine tiefste Sehnsucht hier wie in einem lange
gesuchten Heimathlande gestillt fand. Und dann erwacht in
wunderbarer Weise mit der Luft, die man einathmet, mit den
Bergformen, die den Horizont bilden, mit den Gestalten, zwi¬
schen denen man wandelt, ein künstlerischer Formsinn, wie er
dem Nordländer von Hause aus nicht eigen zu sein pflegt.
In einer gewissen Einseitigkeit zeigt sich dies bei Platen, in
schönster Anmuth bei Goethe, und insofern können wir neben
den Schöpfungen von Thorwaldsen und Cornelius auch Tasso
und Iphigenia nennen unter den Werken neuerer Kunst, welche
unter der Gunst der römischen Sonne gereift sind und welche
uns den Boden von Rom doppelt theuer machen.

Eine schwierigere Aufgabe war es, unsere Wissenschaft,
namentlich die Alterthumswissenschaft, in Rom einheimisch zu
machen. Hier war die Ueberlegenheit der Eingeborenen viel
begründeter und eine gewisse patriotische Eifersucht viel be¬
rechtigter. Hat doch die kleinste Stadt Italiens ihre einhei¬
mischen Ortsführer und Geschichtschreiber, wie viel mehr mußte
in Rom seit Beginn der humanistischen Richtung Orts- und
Denkmälerkunde zu Hause sein! Wer hier mit offenen Sinnen
aufwuchs, mußte sich von selbst in die Alterthümer einleben.
Spielend lernte er die Marmorarten unterscheiden, die Züge
der Cäsarenbüsten sich einprägen, die Baureste verstehen und
ergänzen, die Bildwerke deuten. Kunstliebe gehörte zum guten
Tone, Kunstbesitz und Kennerschaft zu dem, was man in keinem

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Rom und die Deutſchen.
licher Intereſſen und Rückſichten, welche in der Heimath den
Menſchen umſponnen halten. Iſt doch die Ueberſchätzung
dieſer Dinge noch eine Schwäche der Deutſchen, mit ihrem
kleinbürgerlichen Standesgeiſte verbunden. Der Eine fühlt
ſich vor Allem als Beamten, der Andere als Gelehrten, der
Dritte als Soldat. Das verſchwindet an einem Orte wie
Rom; die Nebendinge werden gleichgültig, das wahrhaft
Große und Bedeutende wächſt unmittelbar an den Menſchen
heran, das Bewußtſein erweitert ſich, man fühlt ſich von der
Würde der Gegenſtände getragen; es tritt eine Stille ein,
welche verſöhnend, befreiend, heilend wirkt, wie es Goethe
empfand, der ſeine tiefſte Sehnſucht hier wie in einem lange
geſuchten Heimathlande geſtillt fand. Und dann erwacht in
wunderbarer Weiſe mit der Luft, die man einathmet, mit den
Bergformen, die den Horizont bilden, mit den Geſtalten, zwi¬
ſchen denen man wandelt, ein künſtleriſcher Formſinn, wie er
dem Nordländer von Hauſe aus nicht eigen zu ſein pflegt.
In einer gewiſſen Einſeitigkeit zeigt ſich dies bei Platen, in
ſchönſter Anmuth bei Goethe, und inſofern können wir neben
den Schöpfungen von Thorwaldſen und Cornelius auch Taſſo
und Iphigenia nennen unter den Werken neuerer Kunſt, welche
unter der Gunſt der römiſchen Sonne gereift ſind und welche
uns den Boden von Rom doppelt theuer machen.

Eine ſchwierigere Aufgabe war es, unſere Wiſſenſchaft,
namentlich die Alterthumswiſſenſchaft, in Rom einheimiſch zu
machen. Hier war die Ueberlegenheit der Eingeborenen viel
begründeter und eine gewiſſe patriotiſche Eiferſucht viel be¬
rechtigter. Hat doch die kleinſte Stadt Italiens ihre einhei¬
miſchen Ortsführer und Geſchichtſchreiber, wie viel mehr mußte
in Rom ſeit Beginn der humaniſtiſchen Richtung Orts- und
Denkmälerkunde zu Hauſe ſein! Wer hier mit offenen Sinnen
aufwuchs, mußte ſich von ſelbſt in die Alterthümer einleben.
Spielend lernte er die Marmorarten unterſcheiden, die Züge
der Cäſarenbüſten ſich einprägen, die Baureſte verſtehen und
ergänzen, die Bildwerke deuten. Kunſtliebe gehörte zum guten
Tone, Kunſtbeſitz und Kennerſchaft zu dem, was man in keinem

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[51/0067] Rom und die Deutſchen. licher Intereſſen und Rückſichten, welche in der Heimath den Menſchen umſponnen halten. Iſt doch die Ueberſchätzung dieſer Dinge noch eine Schwäche der Deutſchen, mit ihrem kleinbürgerlichen Standesgeiſte verbunden. Der Eine fühlt ſich vor Allem als Beamten, der Andere als Gelehrten, der Dritte als Soldat. Das verſchwindet an einem Orte wie Rom; die Nebendinge werden gleichgültig, das wahrhaft Große und Bedeutende wächſt unmittelbar an den Menſchen heran, das Bewußtſein erweitert ſich, man fühlt ſich von der Würde der Gegenſtände getragen; es tritt eine Stille ein, welche verſöhnend, befreiend, heilend wirkt, wie es Goethe empfand, der ſeine tiefſte Sehnſucht hier wie in einem lange geſuchten Heimathlande geſtillt fand. Und dann erwacht in wunderbarer Weiſe mit der Luft, die man einathmet, mit den Bergformen, die den Horizont bilden, mit den Geſtalten, zwi¬ ſchen denen man wandelt, ein künſtleriſcher Formſinn, wie er dem Nordländer von Hauſe aus nicht eigen zu ſein pflegt. In einer gewiſſen Einſeitigkeit zeigt ſich dies bei Platen, in ſchönſter Anmuth bei Goethe, und inſofern können wir neben den Schöpfungen von Thorwaldſen und Cornelius auch Taſſo und Iphigenia nennen unter den Werken neuerer Kunſt, welche unter der Gunſt der römiſchen Sonne gereift ſind und welche uns den Boden von Rom doppelt theuer machen. Eine ſchwierigere Aufgabe war es, unſere Wiſſenſchaft, namentlich die Alterthumswiſſenſchaft, in Rom einheimiſch zu machen. Hier war die Ueberlegenheit der Eingeborenen viel begründeter und eine gewiſſe patriotiſche Eiferſucht viel be¬ rechtigter. Hat doch die kleinſte Stadt Italiens ihre einhei¬ miſchen Ortsführer und Geſchichtſchreiber, wie viel mehr mußte in Rom ſeit Beginn der humaniſtiſchen Richtung Orts- und Denkmälerkunde zu Hauſe ſein! Wer hier mit offenen Sinnen aufwuchs, mußte ſich von ſelbſt in die Alterthümer einleben. Spielend lernte er die Marmorarten unterſcheiden, die Züge der Cäſarenbüſten ſich einprägen, die Baureſte verſtehen und ergänzen, die Bildwerke deuten. Kunſtliebe gehörte zum guten Tone, Kunſtbeſitz und Kennerſchaft zu dem, was man in keinem 4*

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/67>, abgerufen am 23.11.2024.