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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
Völkergeschichte tritt Einem lebendig entgegen, und wie Sul¬
picius einst seinem gebeugten Freunde Cicero schrieb, daß er
auf seiner Fahrt durch den saronischen Golf bei dem Anblicke
so vieler Plätze alten Ruhmes, die nun wie Leichen da lägen,
erkannt habe, wie thöricht es doch sei, wenn der einzelne
Mensch um sein Mißgeschick verzweifle und den Göttern grolle:
so vergessen auch wir an solchen Plätzen das Kleine und
Eigene und denken den Gerichten Gottes nach, welche hier an
den Völkern vollzogen sind. An denselben Stätten wird man
aber auch dessen inne, was an menschlichen Werken unvergäng¬
lich ist. Denn die Marmorsäulen, unter denen wir stehen, sind
die Zeugen einer Zeit, wo alle edlen Triebe, die der Menschen¬
seele eingepflanzt sind, kräftig entfaltet waren, wo die Ein¬
zelnen im Ganzen lebten, als Glieder einer Gemeinde, welche
Alles an die Ehre des Vaterlandes setzte, wo die Wissenschaft
nach ewiger Wahrheit rang und die Kunst im Dienste der
Götter ihre höchsten Ziele suchte.

Darum wird man auch auf klassischem Boden den Auf¬
gaben der Gegenwart nicht entfremdet. Man kehret heim mit
erfrischter Kraft, mit gestärkter Liebe zum wissenschaftlichen
Berufe, mit erhöhter Liebe zum Vaterlande. Deutsche Wissen¬
schaft hat uns nach Athen geführt und ihre Fackel hat unsere
Wege auf griechischem Boden beleuchtet. Denn wir traten dort
in die Fußtapfen des Mannes, welcher von hier aus einst
dieselbe Pilgerfahrt unternahm. *)Dankbar haben wir in Athen
vereinigten Genossen die Grabsäule auf dem Kolonos bekränzt
und sein Andenken ehrend zugleich uns selbst gelobt, an unserm
Theil die Ehre deutscher Wissenschaft unbefleckt zu erhalten
und die Liebe zu ihr in der deutschen Jugend fortzupflanzen.


*) Karl Otfried Müller 1840.

Das alte und neue Griechenland.
Völkergeſchichte tritt Einem lebendig entgegen, und wie Sul¬
picius einſt ſeinem gebeugten Freunde Cicero ſchrieb, daß er
auf ſeiner Fahrt durch den ſaroniſchen Golf bei dem Anblicke
ſo vieler Plätze alten Ruhmes, die nun wie Leichen da lägen,
erkannt habe, wie thöricht es doch ſei, wenn der einzelne
Menſch um ſein Mißgeſchick verzweifle und den Göttern grolle:
ſo vergeſſen auch wir an ſolchen Plätzen das Kleine und
Eigene und denken den Gerichten Gottes nach, welche hier an
den Völkern vollzogen ſind. An denſelben Stätten wird man
aber auch deſſen inne, was an menſchlichen Werken unvergäng¬
lich iſt. Denn die Marmorſäulen, unter denen wir ſtehen, ſind
die Zeugen einer Zeit, wo alle edlen Triebe, die der Menſchen¬
ſeele eingepflanzt ſind, kräftig entfaltet waren, wo die Ein¬
zelnen im Ganzen lebten, als Glieder einer Gemeinde, welche
Alles an die Ehre des Vaterlandes ſetzte, wo die Wiſſenſchaft
nach ewiger Wahrheit rang und die Kunſt im Dienſte der
Götter ihre höchſten Ziele ſuchte.

Darum wird man auch auf klaſſiſchem Boden den Auf¬
gaben der Gegenwart nicht entfremdet. Man kehret heim mit
erfriſchter Kraft, mit geſtärkter Liebe zum wiſſenſchaftlichen
Berufe, mit erhöhter Liebe zum Vaterlande. Deutſche Wiſſen¬
ſchaft hat uns nach Athen geführt und ihre Fackel hat unſere
Wege auf griechiſchem Boden beleuchtet. Denn wir traten dort
in die Fußtapfen des Mannes, welcher von hier aus einſt
dieſelbe Pilgerfahrt unternahm. *)Dankbar haben wir in Athen
vereinigten Genoſſen die Grabſäule auf dem Kolonos bekränzt
und ſein Andenken ehrend zugleich uns ſelbſt gelobt, an unſerm
Theil die Ehre deutſcher Wiſſenſchaft unbefleckt zu erhalten
und die Liebe zu ihr in der deutſchen Jugend fortzupflanzen.


*) Karl Otfried Müller 1840.
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[40/0056] Das alte und neue Griechenland. Völkergeſchichte tritt Einem lebendig entgegen, und wie Sul¬ picius einſt ſeinem gebeugten Freunde Cicero ſchrieb, daß er auf ſeiner Fahrt durch den ſaroniſchen Golf bei dem Anblicke ſo vieler Plätze alten Ruhmes, die nun wie Leichen da lägen, erkannt habe, wie thöricht es doch ſei, wenn der einzelne Menſch um ſein Mißgeſchick verzweifle und den Göttern grolle: ſo vergeſſen auch wir an ſolchen Plätzen das Kleine und Eigene und denken den Gerichten Gottes nach, welche hier an den Völkern vollzogen ſind. An denſelben Stätten wird man aber auch deſſen inne, was an menſchlichen Werken unvergäng¬ lich iſt. Denn die Marmorſäulen, unter denen wir ſtehen, ſind die Zeugen einer Zeit, wo alle edlen Triebe, die der Menſchen¬ ſeele eingepflanzt ſind, kräftig entfaltet waren, wo die Ein¬ zelnen im Ganzen lebten, als Glieder einer Gemeinde, welche Alles an die Ehre des Vaterlandes ſetzte, wo die Wiſſenſchaft nach ewiger Wahrheit rang und die Kunſt im Dienſte der Götter ihre höchſten Ziele ſuchte. Darum wird man auch auf klaſſiſchem Boden den Auf¬ gaben der Gegenwart nicht entfremdet. Man kehret heim mit erfriſchter Kraft, mit geſtärkter Liebe zum wiſſenſchaftlichen Berufe, mit erhöhter Liebe zum Vaterlande. Deutſche Wiſſen¬ ſchaft hat uns nach Athen geführt und ihre Fackel hat unſere Wege auf griechiſchem Boden beleuchtet. Denn wir traten dort in die Fußtapfen des Mannes, welcher von hier aus einſt dieſelbe Pilgerfahrt unternahm. *)Dankbar haben wir in Athen vereinigten Genoſſen die Grabſäule auf dem Kolonos bekränzt und ſein Andenken ehrend zugleich uns ſelbſt gelobt, an unſerm Theil die Ehre deutſcher Wiſſenſchaft unbefleckt zu erhalten und die Liebe zu ihr in der deutſchen Jugend fortzupflanzen. *) Karl Otfried Müller 1840.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/56>, abgerufen am 21.11.2024.