Wie anders die Griechenstädte! Die Griechen waren auch hierin ein Kunstvolk, ihre Stadt ein Kunstwerk. Worin zeigt sich aber hier der Charakter des Kunstschönen? Etwa in der Anmuth landschaftlicher Lage oder im Aufwande von Pracht und Schmuck? Keineswegs; der Begriff des Schönen ist ein viel tieferer und geistigerer; er stammt aus der Idee des Maßes und der Ordnung. Das Schöne, sagt Aristoteles, darf eine gewisse Größe nicht überschreiten, denn so wie es nicht mehr überblickt werden kann, geht die Einheit verloren, welche das Viele zu einem Ganzen verbindet. Diese Einheit kann aber keine vollständige sein, wenn die einzelnen Theile da sein oder fehlen und beliebig an dieser oder jener Stelle sich be¬ finden können; sie müssen vielmehr alle in zweckvollem Zu¬ sammenhange stehen, jeder an seiner Stelle, einer dem andern unentbehrlich und einem Hauptzwecke dienend.
Darum ist der hellenische Kunstsinn ein Feind alles Will¬ kürlichen und Unbegränzten, ein Feind zufälliger Anhäufung, ein Feind des Massenhaften, weil es Einheit ohne Gliederung ist, und ebenso des Vielen, welches keine Einheit bildet.
So aufgefaßt, findet der Begriff des Kunstschönen seine volle Anwendung auch auf die Stadtgründungen. Die hellenische Stadt ist darauf berechnet, daß sie ein übersichtliches Ganze sei, daß im Theater, auf dem Markte, im Volksversammlungs¬ raume die ganze Bürgerschaft vereinigt sei und daß des Herolds Ruf so wie des Redners Stimme jeden Bürger erreiche. Auf einer mäßigen, aber scharf umgränzten Hochfläche stehen die Tempel der stadthütenden Gottheiten, unten das Stadthaus mit dem Stadtherde, am Markte gelegen; der Markt in der Niederung, wo die Wege vom Binnenlande und vom Gestade zusammentreffen; vor dem Thore am Fluße Stadium und Ringplätze. Die Bürger sollten sich einander kennen und als Glieder einer Gemeinschaft fühlen, damit Jeder vor dem An¬ deren sich scheue, Herkommen und Sitte zu verletzen. In Familien, Geschlechter und Geschlechtsvereine gegliedert, waren sie um so übersichtlicher. Dennoch vermied man jede Ueber¬ füllung. Zehntausend war eine normale Bürgerzahl; die
Große und kleine Städte.
Wie anders die Griechenſtädte! Die Griechen waren auch hierin ein Kunſtvolk, ihre Stadt ein Kunſtwerk. Worin zeigt ſich aber hier der Charakter des Kunſtſchönen? Etwa in der Anmuth landſchaftlicher Lage oder im Aufwande von Pracht und Schmuck? Keineswegs; der Begriff des Schönen iſt ein viel tieferer und geiſtigerer; er ſtammt aus der Idee des Maßes und der Ordnung. Das Schöne, ſagt Ariſtoteles, darf eine gewiſſe Größe nicht überſchreiten, denn ſo wie es nicht mehr überblickt werden kann, geht die Einheit verloren, welche das Viele zu einem Ganzen verbindet. Dieſe Einheit kann aber keine vollſtändige ſein, wenn die einzelnen Theile da ſein oder fehlen und beliebig an dieſer oder jener Stelle ſich be¬ finden können; ſie müſſen vielmehr alle in zweckvollem Zu¬ ſammenhange ſtehen, jeder an ſeiner Stelle, einer dem andern unentbehrlich und einem Hauptzwecke dienend.
Darum iſt der helleniſche Kunſtſinn ein Feind alles Will¬ kürlichen und Unbegränzten, ein Feind zufälliger Anhäufung, ein Feind des Maſſenhaften, weil es Einheit ohne Gliederung iſt, und ebenſo des Vielen, welches keine Einheit bildet.
So aufgefaßt, findet der Begriff des Kunſtſchönen ſeine volle Anwendung auch auf die Stadtgründungen. Die helleniſche Stadt iſt darauf berechnet, daß ſie ein überſichtliches Ganze ſei, daß im Theater, auf dem Markte, im Volksverſammlungs¬ raume die ganze Bürgerſchaft vereinigt ſei und daß des Herolds Ruf ſo wie des Redners Stimme jeden Bürger erreiche. Auf einer mäßigen, aber ſcharf umgränzten Hochfläche ſtehen die Tempel der ſtadthütenden Gottheiten, unten das Stadthaus mit dem Stadtherde, am Markte gelegen; der Markt in der Niederung, wo die Wege vom Binnenlande und vom Geſtade zuſammentreffen; vor dem Thore am Fluße Stadium und Ringplätze. Die Bürger ſollten ſich einander kennen und als Glieder einer Gemeinſchaft fühlen, damit Jeder vor dem An¬ deren ſich ſcheue, Herkommen und Sitte zu verletzen. In Familien, Geſchlechter und Geſchlechtsvereine gegliedert, waren ſie um ſo überſichtlicher. Dennoch vermied man jede Ueber¬ füllung. Zehntauſend war eine normale Bürgerzahl; die
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Große und kleine Städte.
Wie anders die Griechenſtädte! Die Griechen waren auch
hierin ein Kunſtvolk, ihre Stadt ein Kunſtwerk. Worin zeigt
ſich aber hier der Charakter des Kunſtſchönen? Etwa in der
Anmuth landſchaftlicher Lage oder im Aufwande von Pracht
und Schmuck? Keineswegs; der Begriff des Schönen iſt ein
viel tieferer und geiſtigerer; er ſtammt aus der Idee des
Maßes und der Ordnung. Das Schöne, ſagt Ariſtoteles, darf
eine gewiſſe Größe nicht überſchreiten, denn ſo wie es nicht
mehr überblickt werden kann, geht die Einheit verloren, welche
das Viele zu einem Ganzen verbindet. Dieſe Einheit kann
aber keine vollſtändige ſein, wenn die einzelnen Theile da ſein
oder fehlen und beliebig an dieſer oder jener Stelle ſich be¬
finden können; ſie müſſen vielmehr alle in zweckvollem Zu¬
ſammenhange ſtehen, jeder an ſeiner Stelle, einer dem andern
unentbehrlich und einem Hauptzwecke dienend.
Darum iſt der helleniſche Kunſtſinn ein Feind alles Will¬
kürlichen und Unbegränzten, ein Feind zufälliger Anhäufung,
ein Feind des Maſſenhaften, weil es Einheit ohne Gliederung
iſt, und ebenſo des Vielen, welches keine Einheit bildet.
So aufgefaßt, findet der Begriff des Kunſtſchönen ſeine
volle Anwendung auch auf die Stadtgründungen. Die helleniſche
Stadt iſt darauf berechnet, daß ſie ein überſichtliches Ganze
ſei, daß im Theater, auf dem Markte, im Volksverſammlungs¬
raume die ganze Bürgerſchaft vereinigt ſei und daß des Herolds
Ruf ſo wie des Redners Stimme jeden Bürger erreiche. Auf
einer mäßigen, aber ſcharf umgränzten Hochfläche ſtehen die
Tempel der ſtadthütenden Gottheiten, unten das Stadthaus
mit dem Stadtherde, am Markte gelegen; der Markt in der
Niederung, wo die Wege vom Binnenlande und vom Geſtade
zuſammentreffen; vor dem Thore am Fluße Stadium und
Ringplätze. Die Bürger ſollten ſich einander kennen und als
Glieder einer Gemeinſchaft fühlen, damit Jeder vor dem An¬
deren ſich ſcheue, Herkommen und Sitte zu verletzen. In
Familien, Geſchlechter und Geſchlechtsvereine gegliedert, waren
ſie um ſo überſichtlicher. Dennoch vermied man jede Ueber¬
füllung. Zehntauſend war eine normale Bürgerzahl; die
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/389>, abgerufen am 24.11.2024.
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