uns der trotzige Unabhängigkeitssinn des Volskers in Juvenal entgegen, der sich aus dem Gewühle der Stadt nach seinem Aquinum zurückzieht und in jener Satire, welche eine ganze Nachkommenschaft ähnlicher Gedichte hervorgerufen hat, seinem Unwillen über die Unerträglichkeit einer Großstadt Luft macht.
So verbreitet und so zähe ist nicht nur bei unsern Stamm¬ vätern, sondern auch bei den verwandten Völkern die Abneigung gegen städtische Concentration, und es ist daher kein Wunder, wenn auch bei den späten Enkeln von diesem Sinne etwas übrig ist und auch unter ihnen noch Viele sind, welche sich das städtische Leben nicht ohne Einbuße an behaglicher Unabhängig¬ keit vorstellen können.
Wenn nun die Mauerringe gefallen sind, welche nach ger¬ manischer Ansicht den Bürger zum Gefangenen machten, wenn auch von sonstiger Freiheitsbeschränkung innerhalb der Städte im Ernste nicht mehr die Rede sein kann, so muß die Ab¬ neigung gegen dieselben, wo sie vorhanden ist, noch andere Quellen haben; sie wird weniger gegen das städtische, als gegen das großstädtische Wesen gerichtet sein; sie wurzelt, wenn ich recht urtheile, in einem ästhetischen Mißbehagen, welches wir nicht als Enkel der taciteischen Germanen, sondern als Schüler der Hellenen, als Zöglinge des klassischen Alter¬ thums empfinden.
Die Hellenen sind die Meister des Stadtbaus; sie sind auch hierin unsre Lehrer und maßgebenden Vorbilder.
Zwar gab es lange vor allen Anfängen griechischer Ge¬ schichte großartige Stadtanlagen. Die Städte am Euphrat und Tigris waren Stapelplätze des Flußhandels, der Ge¬ birge und Meer verbindet, und Kreuzpunkte der Caravanenzüge, Mittelpunkte erobernder Reiche und Sitze von Reichsfürsten, deren Hofpersonal schon einer Stadtbevölkerung glich. Jeder Dynast baute eine neue Residenz und es wuchsen die Städte in das Unermeßliche. Drei Tage gebrauchte man um Ninive zu durchwandern und Babel war so weitläufig, daß ein Theil der Stadt in den Händen der Feinde war, während man im Mittelpunkte derselben noch Feste feierte und Reigen aufführte.
Große und kleine Städte.
uns der trotzige Unabhängigkeitsſinn des Volskers in Juvenal entgegen, der ſich aus dem Gewühle der Stadt nach ſeinem Aquinum zurückzieht und in jener Satire, welche eine ganze Nachkommenſchaft ähnlicher Gedichte hervorgerufen hat, ſeinem Unwillen über die Unerträglichkeit einer Großſtadt Luft macht.
So verbreitet und ſo zähe iſt nicht nur bei unſern Stamm¬ vätern, ſondern auch bei den verwandten Völkern die Abneigung gegen ſtädtiſche Concentration, und es iſt daher kein Wunder, wenn auch bei den ſpäten Enkeln von dieſem Sinne etwas übrig iſt und auch unter ihnen noch Viele ſind, welche ſich das ſtädtiſche Leben nicht ohne Einbuße an behaglicher Unabhängig¬ keit vorſtellen können.
Wenn nun die Mauerringe gefallen ſind, welche nach ger¬ maniſcher Anſicht den Bürger zum Gefangenen machten, wenn auch von ſonſtiger Freiheitsbeſchränkung innerhalb der Städte im Ernſte nicht mehr die Rede ſein kann, ſo muß die Ab¬ neigung gegen dieſelben, wo ſie vorhanden iſt, noch andere Quellen haben; ſie wird weniger gegen das ſtädtiſche, als gegen das großſtädtiſche Weſen gerichtet ſein; ſie wurzelt, wenn ich recht urtheile, in einem äſthetiſchen Mißbehagen, welches wir nicht als Enkel der taciteiſchen Germanen, ſondern als Schüler der Hellenen, als Zöglinge des klaſſiſchen Alter¬ thums empfinden.
Die Hellenen ſind die Meiſter des Stadtbaus; ſie ſind auch hierin unſre Lehrer und maßgebenden Vorbilder.
Zwar gab es lange vor allen Anfängen griechiſcher Ge¬ ſchichte großartige Stadtanlagen. Die Städte am Euphrat und Tigris waren Stapelplätze des Flußhandels, der Ge¬ birge und Meer verbindet, und Kreuzpunkte der Caravanenzüge, Mittelpunkte erobernder Reiche und Sitze von Reichsfürſten, deren Hofperſonal ſchon einer Stadtbevölkerung glich. Jeder Dynaſt baute eine neue Reſidenz und es wuchſen die Städte in das Unermeßliche. Drei Tage gebrauchte man um Ninive zu durchwandern und Babel war ſo weitläufig, daß ein Theil der Stadt in den Händen der Feinde war, während man im Mittelpunkte derſelben noch Feſte feierte und Reigen aufführte.
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Große und kleine Städte.
uns der trotzige Unabhängigkeitsſinn des Volskers in Juvenal
entgegen, der ſich aus dem Gewühle der Stadt nach ſeinem
Aquinum zurückzieht und in jener Satire, welche eine ganze
Nachkommenſchaft ähnlicher Gedichte hervorgerufen hat, ſeinem
Unwillen über die Unerträglichkeit einer Großſtadt Luft macht.
So verbreitet und ſo zähe iſt nicht nur bei unſern Stamm¬
vätern, ſondern auch bei den verwandten Völkern die Abneigung
gegen ſtädtiſche Concentration, und es iſt daher kein Wunder,
wenn auch bei den ſpäten Enkeln von dieſem Sinne etwas
übrig iſt und auch unter ihnen noch Viele ſind, welche ſich das
ſtädtiſche Leben nicht ohne Einbuße an behaglicher Unabhängig¬
keit vorſtellen können.
Wenn nun die Mauerringe gefallen ſind, welche nach ger¬
maniſcher Anſicht den Bürger zum Gefangenen machten, wenn
auch von ſonſtiger Freiheitsbeſchränkung innerhalb der Städte
im Ernſte nicht mehr die Rede ſein kann, ſo muß die Ab¬
neigung gegen dieſelben, wo ſie vorhanden iſt, noch andere
Quellen haben; ſie wird weniger gegen das ſtädtiſche, als
gegen das großſtädtiſche Weſen gerichtet ſein; ſie wurzelt,
wenn ich recht urtheile, in einem äſthetiſchen Mißbehagen,
welches wir nicht als Enkel der taciteiſchen Germanen, ſondern
als Schüler der Hellenen, als Zöglinge des klaſſiſchen Alter¬
thums empfinden.
Die Hellenen ſind die Meiſter des Stadtbaus; ſie ſind
auch hierin unſre Lehrer und maßgebenden Vorbilder.
Zwar gab es lange vor allen Anfängen griechiſcher Ge¬
ſchichte großartige Stadtanlagen. Die Städte am Euphrat
und Tigris waren Stapelplätze des Flußhandels, der Ge¬
birge und Meer verbindet, und Kreuzpunkte der Caravanenzüge,
Mittelpunkte erobernder Reiche und Sitze von Reichsfürſten,
deren Hofperſonal ſchon einer Stadtbevölkerung glich. Jeder
Dynaſt baute eine neue Reſidenz und es wuchſen die Städte
in das Unermeßliche. Drei Tage gebrauchte man um Ninive
zu durchwandern und Babel war ſo weitläufig, daß ein Theil
der Stadt in den Händen der Feinde war, während man im
Mittelpunkte derſelben noch Feſte feierte und Reigen aufführte.
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/388>, abgerufen am 03.07.2024.
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