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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Weihe des Siegs.
in dem Wahrheitssinn liegt. Denn wenn wir etwas mit Stolz
unser nennen, so ist es die unauflösliche Verbindung zwischen
dem Forschergeiste, welcher unsere Wissenschaften beseelt, und
dem sittlichen Zuge, welcher nach den ewigen Zielen und
Normen des Lebens sucht. Darauf beruht die Universalität und
die Idealität deutscher Geistesbildung. Darum strebt Jeder
von uns unwillkürlich über das Fach hinaus zum Allgemeinen,
vom Einzelnen zum Ganzen, und Jeder sucht in der großen
Bewegung der Geister zu bleiben, welche von der Reformation
her ununterbrochen fortwirkt. Es ist kennzeichnend für unsere
Bildung, daß sie in dem Momente, wo sie eine national¬
deutsche wurde, gleich die höchsten Probleme erfaßte und von
Fragen anhob, welche sich um das Heil der Seele bewegten.
Seitdem kann man Ethik und wissenschaftliche Arbeit nicht
mehr trennen, ohne den Charakter deutscher Wissenschaft zu
verläugnen, und zu den treibenden Kräften, welche mit der
Reformation in unserm Volke lebendig geworden sind, gehört
vor Allem das Gefühl eigner Verantwortlichkeit, das Jeder
in seinem Gewissen trägt, nicht als einen unbequemen Stachel,
sondern als das Unterpfand voller Menschenwürde, als den
Sporn rastloser Pflichttreue, als die Bürgschaft einer freien
Persönlichkeit, welche die ewigen Gesetze des sittlichen Lebens
nach eigener Entscheidung anerkennt. Hier begegnen sich die
Männer, welche den verschiedensten Standpunkten angehören,
Luther, Lessing, Kant, Schleiermacher. Niemand hat auf
deutsches Geistesleben Einfluß gewinnen können, welchem dieser
Grundzug fehlte, und es ist im Grunde ein Zug des Geistes,
welcher den Denker zwingt vor keinem Probleme zurückzu¬
weichen und der unsern Soldaten antreibt, mit ruhigem Schritte
dem Kugelregen entgegenzugehen oder mit erkaltender Hand
das Banner zu umklammern, das er für König und Vaterland
zu tragen hat. Ja, darin erkennen wir recht die geschichtliche
Aufgabe unseres Volks, daß es die scheinbaren Gegensätze
von Freiheit und Gehorsam, von persönlicher Unabhängigkeit
und sittlicher Gebundenheit überwinde; es soll den Wahn
zerstören, als ob das die besten Weltbürger seien, die nur an

Die Weihe des Siegs.
in dem Wahrheitsſinn liegt. Denn wenn wir etwas mit Stolz
unſer nennen, ſo iſt es die unauflösliche Verbindung zwiſchen
dem Forſchergeiſte, welcher unſere Wiſſenſchaften beſeelt, und
dem ſittlichen Zuge, welcher nach den ewigen Zielen und
Normen des Lebens ſucht. Darauf beruht die Univerſalität und
die Idealität deutſcher Geiſtesbildung. Darum ſtrebt Jeder
von uns unwillkürlich über das Fach hinaus zum Allgemeinen,
vom Einzelnen zum Ganzen, und Jeder ſucht in der großen
Bewegung der Geiſter zu bleiben, welche von der Reformation
her ununterbrochen fortwirkt. Es iſt kennzeichnend für unſere
Bildung, daß ſie in dem Momente, wo ſie eine national¬
deutſche wurde, gleich die höchſten Probleme erfaßte und von
Fragen anhob, welche ſich um das Heil der Seele bewegten.
Seitdem kann man Ethik und wiſſenſchaftliche Arbeit nicht
mehr trennen, ohne den Charakter deutſcher Wiſſenſchaft zu
verläugnen, und zu den treibenden Kräften, welche mit der
Reformation in unſerm Volke lebendig geworden ſind, gehört
vor Allem das Gefühl eigner Verantwortlichkeit, das Jeder
in ſeinem Gewiſſen trägt, nicht als einen unbequemen Stachel,
ſondern als das Unterpfand voller Menſchenwürde, als den
Sporn raſtloſer Pflichttreue, als die Bürgſchaft einer freien
Perſönlichkeit, welche die ewigen Geſetze des ſittlichen Lebens
nach eigener Entſcheidung anerkennt. Hier begegnen ſich die
Männer, welche den verſchiedenſten Standpunkten angehören,
Luther, Leſſing, Kant, Schleiermacher. Niemand hat auf
deutſches Geiſtesleben Einfluß gewinnen können, welchem dieſer
Grundzug fehlte, und es iſt im Grunde ein Zug des Geiſtes,
welcher den Denker zwingt vor keinem Probleme zurückzu¬
weichen und der unſern Soldaten antreibt, mit ruhigem Schritte
dem Kugelregen entgegenzugehen oder mit erkaltender Hand
das Banner zu umklammern, das er für König und Vaterland
zu tragen hat. Ja, darin erkennen wir recht die geſchichtliche
Aufgabe unſeres Volks, daß es die ſcheinbaren Gegenſätze
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[349/0365] Die Weihe des Siegs. in dem Wahrheitsſinn liegt. Denn wenn wir etwas mit Stolz unſer nennen, ſo iſt es die unauflösliche Verbindung zwiſchen dem Forſchergeiſte, welcher unſere Wiſſenſchaften beſeelt, und dem ſittlichen Zuge, welcher nach den ewigen Zielen und Normen des Lebens ſucht. Darauf beruht die Univerſalität und die Idealität deutſcher Geiſtesbildung. Darum ſtrebt Jeder von uns unwillkürlich über das Fach hinaus zum Allgemeinen, vom Einzelnen zum Ganzen, und Jeder ſucht in der großen Bewegung der Geiſter zu bleiben, welche von der Reformation her ununterbrochen fortwirkt. Es iſt kennzeichnend für unſere Bildung, daß ſie in dem Momente, wo ſie eine national¬ deutſche wurde, gleich die höchſten Probleme erfaßte und von Fragen anhob, welche ſich um das Heil der Seele bewegten. Seitdem kann man Ethik und wiſſenſchaftliche Arbeit nicht mehr trennen, ohne den Charakter deutſcher Wiſſenſchaft zu verläugnen, und zu den treibenden Kräften, welche mit der Reformation in unſerm Volke lebendig geworden ſind, gehört vor Allem das Gefühl eigner Verantwortlichkeit, das Jeder in ſeinem Gewiſſen trägt, nicht als einen unbequemen Stachel, ſondern als das Unterpfand voller Menſchenwürde, als den Sporn raſtloſer Pflichttreue, als die Bürgſchaft einer freien Perſönlichkeit, welche die ewigen Geſetze des ſittlichen Lebens nach eigener Entſcheidung anerkennt. Hier begegnen ſich die Männer, welche den verſchiedenſten Standpunkten angehören, Luther, Leſſing, Kant, Schleiermacher. Niemand hat auf deutſches Geiſtesleben Einfluß gewinnen können, welchem dieſer Grundzug fehlte, und es iſt im Grunde ein Zug des Geiſtes, welcher den Denker zwingt vor keinem Probleme zurückzu¬ weichen und der unſern Soldaten antreibt, mit ruhigem Schritte dem Kugelregen entgegenzugehen oder mit erkaltender Hand das Banner zu umklammern, das er für König und Vaterland zu tragen hat. Ja, darin erkennen wir recht die geſchichtliche Aufgabe unſeres Volks, daß es die ſcheinbaren Gegenſätze von Freiheit und Gehorſam, von perſönlicher Unabhängigkeit und ſittlicher Gebundenheit überwinde; es ſoll den Wahn zerſtören, als ob das die beſten Weltbürger ſeien, die nur an

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/365>, abgerufen am 23.11.2024.