solche Fesselung gefallen lassen und sich nach den Paragraphen akademischer Compendien richten!
Vor solchen Verirrungen bewahrt der geschichtliche Sinn, dessen treue Pflege eine der wichtigsten Aufgaben unserer Uni¬ versitäten ist. Der geschichtliche Sinn duldet keine ungerechte Leidenschaftlichkeit, er macht die schlimmsten aller Parteirich¬ tungen unmöglich, nämlich diejenigen, welche abstracte Grund¬ sätze ohne Rücksicht auf die gegebenen Verhältnisse mit zähem Starrsinn durchführen wollen; er behütet uns vor den Ge¬ fahren, welche das Festhalten überwundener Parteistandpunkte der Staatsgemeinschaft bringt, er verhindert die Trennung des Alters und der Jugend in ihrer Auffassung der Zeit, eine Trennung, welche nach beiden Seiten nachtheilig wirkt; er lenkt unsern Blick von den Nebenpunkten auf die Hauptsache, er zeigt uns die Bedürfnisse des Volks und die Ziele, zu welchen seine Entwickelung drängt; er läßt uns in den Wegen, welche sie nimmt, auch wenn sie mit unseren Wünschen nicht über¬ einstimmen, eine höhere Leitung erkennen, welcher wir uns nicht in thörichtem Hochmuth widersetzen, auch nicht mißmuthig fügen, sondern welcher wir mit Selbstverläugnung dienen und förderlich sein sollen mit allen Kräften, die uns Gott gegeben hat. Der wahrhaft geschichtliche Sinn ist auch immer der vaterländische Sinn, und wo diese zusammen an einer Uni¬ versität blühen, da wird sie die richtige Stellung im Kampfe der Parteien einnehmen.
Zwischen Volksgenossen, sagt Plato, kann kein Krieg statt¬ finden, sondern nur ein Bürgerzwist, aus welchem sie, wenn auch nach blutigen Auseinandersetzungen, zum Bewußtsein der Gemeinschaft zurückkehren. Wie viel mehr muß in dem enge¬ ren Kreise von Männern, welche in sich die Volksgemeinde vertreten, wenn sie Alle das Ganze im Auge haben, nach jedem Auseinandergehen, wie es in bewegter Zeit unvermeidlich ist, sich immer wieder die wahre Einheit herstellen, die Lebens¬ bedingung ihres gedeihlichen Zusammenwirkens, namentlich an einer Universität, welche sich der besonderen Pflege des geschichtlichen wie des nationalen Sinns rühmt! Unserm Volke
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Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
ſolche Feſſelung gefallen laſſen und ſich nach den Paragraphen akademiſcher Compendien richten!
Vor ſolchen Verirrungen bewahrt der geſchichtliche Sinn, deſſen treue Pflege eine der wichtigſten Aufgaben unſerer Uni¬ verſitäten iſt. Der geſchichtliche Sinn duldet keine ungerechte Leidenſchaftlichkeit, er macht die ſchlimmſten aller Parteirich¬ tungen unmöglich, nämlich diejenigen, welche abſtracte Grund¬ ſätze ohne Rückſicht auf die gegebenen Verhältniſſe mit zähem Starrſinn durchführen wollen; er behütet uns vor den Ge¬ fahren, welche das Feſthalten überwundener Parteiſtandpunkte der Staatsgemeinſchaft bringt, er verhindert die Trennung des Alters und der Jugend in ihrer Auffaſſung der Zeit, eine Trennung, welche nach beiden Seiten nachtheilig wirkt; er lenkt unſern Blick von den Nebenpunkten auf die Hauptſache, er zeigt uns die Bedürfniſſe des Volks und die Ziele, zu welchen ſeine Entwickelung drängt; er läßt uns in den Wegen, welche ſie nimmt, auch wenn ſie mit unſeren Wünſchen nicht über¬ einſtimmen, eine höhere Leitung erkennen, welcher wir uns nicht in thörichtem Hochmuth widerſetzen, auch nicht mißmuthig fügen, ſondern welcher wir mit Selbſtverläugnung dienen und förderlich ſein ſollen mit allen Kräften, die uns Gott gegeben hat. Der wahrhaft geſchichtliche Sinn iſt auch immer der vaterländiſche Sinn, und wo dieſe zuſammen an einer Uni¬ verſität blühen, da wird ſie die richtige Stellung im Kampfe der Parteien einnehmen.
Zwiſchen Volksgenoſſen, ſagt Plato, kann kein Krieg ſtatt¬ finden, ſondern nur ein Bürgerzwiſt, aus welchem ſie, wenn auch nach blutigen Auseinanderſetzungen, zum Bewußtſein der Gemeinſchaft zurückkehren. Wie viel mehr muß in dem enge¬ ren Kreiſe von Männern, welche in ſich die Volksgemeinde vertreten, wenn ſie Alle das Ganze im Auge haben, nach jedem Auseinandergehen, wie es in bewegter Zeit unvermeidlich iſt, ſich immer wieder die wahre Einheit herſtellen, die Lebens¬ bedingung ihres gedeihlichen Zuſammenwirkens, namentlich an einer Univerſität, welche ſich der beſonderen Pflege des geſchichtlichen wie des nationalen Sinns rühmt! Unſerm Volke
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Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
ſolche Feſſelung gefallen laſſen und ſich nach den Paragraphen
akademiſcher Compendien richten!
Vor ſolchen Verirrungen bewahrt der geſchichtliche Sinn,
deſſen treue Pflege eine der wichtigſten Aufgaben unſerer Uni¬
verſitäten iſt. Der geſchichtliche Sinn duldet keine ungerechte
Leidenſchaftlichkeit, er macht die ſchlimmſten aller Parteirich¬
tungen unmöglich, nämlich diejenigen, welche abſtracte Grund¬
ſätze ohne Rückſicht auf die gegebenen Verhältniſſe mit zähem
Starrſinn durchführen wollen; er behütet uns vor den Ge¬
fahren, welche das Feſthalten überwundener Parteiſtandpunkte
der Staatsgemeinſchaft bringt, er verhindert die Trennung des
Alters und der Jugend in ihrer Auffaſſung der Zeit, eine
Trennung, welche nach beiden Seiten nachtheilig wirkt; er lenkt
unſern Blick von den Nebenpunkten auf die Hauptſache, er
zeigt uns die Bedürfniſſe des Volks und die Ziele, zu welchen
ſeine Entwickelung drängt; er läßt uns in den Wegen, welche
ſie nimmt, auch wenn ſie mit unſeren Wünſchen nicht über¬
einſtimmen, eine höhere Leitung erkennen, welcher wir uns
nicht in thörichtem Hochmuth widerſetzen, auch nicht mißmuthig
fügen, ſondern welcher wir mit Selbſtverläugnung dienen und
förderlich ſein ſollen mit allen Kräften, die uns Gott gegeben
hat. Der wahrhaft geſchichtliche Sinn iſt auch immer der
vaterländiſche Sinn, und wo dieſe zuſammen an einer Uni¬
verſität blühen, da wird ſie die richtige Stellung im Kampfe
der Parteien einnehmen.
Zwiſchen Volksgenoſſen, ſagt Plato, kann kein Krieg ſtatt¬
finden, ſondern nur ein Bürgerzwiſt, aus welchem ſie, wenn
auch nach blutigen Auseinanderſetzungen, zum Bewußtſein der
Gemeinſchaft zurückkehren. Wie viel mehr muß in dem enge¬
ren Kreiſe von Männern, welche in ſich die Volksgemeinde
vertreten, wenn ſie Alle das Ganze im Auge haben, nach jedem
Auseinandergehen, wie es in bewegter Zeit unvermeidlich iſt,
ſich immer wieder die wahre Einheit herſtellen, die Lebens¬
bedingung ihres gedeihlichen Zuſammenwirkens, namentlich
an einer Univerſität, welche ſich der beſonderen Pflege des
geſchichtlichen wie des nationalen Sinns rühmt! Unſerm Volke
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/355>, abgerufen am 10.06.2024.
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