Ihnen werden auch wir uns hier um so lieber anschließen, da nach ihren Grundsätzen menschliche Tugend und mensch¬ liches Glück sich nur in der Staatsgemeinschaft verwirklichen konnte, und werden also das Wesen eines glücklichen Staats darin erkennen, daß er bei allen seinen Angehörigen eine der Tugend gemäße, volle Entfaltung aller sittlichen Kräfte nicht nur gestattet, sondern auch möglichst anregt und fördert.
Die erste Voraussetzung ist also die, daß solche der Ent¬ faltung fähigen Kräfte vorhanden sind, die dem Staate eine Zukunft verbürgen. Aber es müssen nicht nur ungeschwächte und bildungsfähige Kräfte da sein, sondern sie müssen auch schon angeregt, geübt, in Anstrengung bewährt und dadurch zum Bewußtsein gekommen sein, wenn sie der vollkommenen Entfaltung, in welcher wir das Wesen des glücklichen Zu¬ standes erkennen, nahe sein sollen. Eine solche Zeit der Er¬ weckung hatte Athen durchlebt, ehe es in die perikleische Zeit eintrat. Kühnes Muths hatte die kleine Bürgerschaft mit dem mächtigsten Weltreiche angebunden, indem sie den aufständischen Ioniern Hülfe gewährte; aber dieser Hülfszug war kein thö¬ richtes und abenteuerliches Unternehmen, sondern er ging von dem klaren Bewußtsein aus, daß hellenisches Volk nicht be¬ stimmt sei in Dienstbarkeit der Barbaren zu stehen, und von der richtigen Erkenntniß, daß die beiden Meerseiten zu ge¬ meinsamer Geschichte berufen seien, deren Mittelpunkt Athen sein müsse. Es war der erste Schritt einer unabhängigen und nationalen Politik, die erste That einer Großmacht. Frei¬ lich hatte sich Athen dadurch in einen unabsehlichen Krieg ver¬ wickelt, aber es war ein nothwendiger, ein gerechter und ein segensreicher. Denn alle Verluste an Gut und Menschenleben wurden weit überwogen durch die geistige Erhebung, welche der Gewinn des Sieges war. Nachdem man Stadt und Land preisgegeben, war die Idee des Staats, als einer von äußerem Besitze unabhängigen Gemeinschaft neu geboren, und die Idee des Hellenenthums den Athenern in neuer Kraft aufgegangen. Da war also an ein behagliches Ausruhen auf den gewon¬ nenen Lorbern nicht zu denken, sondern wie man erst nach
Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
Ihnen werden auch wir uns hier um ſo lieber anſchließen, da nach ihren Grundſätzen menſchliche Tugend und menſch¬ liches Glück ſich nur in der Staatsgemeinſchaft verwirklichen konnte, und werden alſo das Weſen eines glücklichen Staats darin erkennen, daß er bei allen ſeinen Angehörigen eine der Tugend gemäße, volle Entfaltung aller ſittlichen Kräfte nicht nur geſtattet, ſondern auch möglichſt anregt und fördert.
Die erſte Vorausſetzung iſt alſo die, daß ſolche der Ent¬ faltung fähigen Kräfte vorhanden ſind, die dem Staate eine Zukunft verbürgen. Aber es müſſen nicht nur ungeſchwächte und bildungsfähige Kräfte da ſein, ſondern ſie müſſen auch ſchon angeregt, geübt, in Anſtrengung bewährt und dadurch zum Bewußtſein gekommen ſein, wenn ſie der vollkommenen Entfaltung, in welcher wir das Weſen des glücklichen Zu¬ ſtandes erkennen, nahe ſein ſollen. Eine ſolche Zeit der Er¬ weckung hatte Athen durchlebt, ehe es in die perikleiſche Zeit eintrat. Kühnes Muths hatte die kleine Bürgerſchaft mit dem mächtigſten Weltreiche angebunden, indem ſie den aufſtändiſchen Ioniern Hülfe gewährte; aber dieſer Hülfszug war kein thö¬ richtes und abenteuerliches Unternehmen, ſondern er ging von dem klaren Bewußtſein aus, daß helleniſches Volk nicht be¬ ſtimmt ſei in Dienſtbarkeit der Barbaren zu ſtehen, und von der richtigen Erkenntniß, daß die beiden Meerſeiten zu ge¬ meinſamer Geſchichte berufen ſeien, deren Mittelpunkt Athen ſein müſſe. Es war der erſte Schritt einer unabhängigen und nationalen Politik, die erſte That einer Großmacht. Frei¬ lich hatte ſich Athen dadurch in einen unabſehlichen Krieg ver¬ wickelt, aber es war ein nothwendiger, ein gerechter und ein ſegensreicher. Denn alle Verluſte an Gut und Menſchenleben wurden weit überwogen durch die geiſtige Erhebung, welche der Gewinn des Sieges war. Nachdem man Stadt und Land preisgegeben, war die Idee des Staats, als einer von äußerem Beſitze unabhängigen Gemeinſchaft neu geboren, und die Idee des Hellenenthums den Athenern in neuer Kraft aufgegangen. Da war alſo an ein behagliches Ausruhen auf den gewon¬ nenen Lorbern nicht zu denken, ſondern wie man erſt nach
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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
Ihnen werden auch wir uns hier um ſo lieber anſchließen,
da nach ihren Grundſätzen menſchliche Tugend und menſch¬
liches Glück ſich nur in der Staatsgemeinſchaft verwirklichen
konnte, und werden alſo das Weſen eines glücklichen Staats
darin erkennen, daß er bei allen ſeinen Angehörigen eine der
Tugend gemäße, volle Entfaltung aller ſittlichen Kräfte nicht
nur geſtattet, ſondern auch möglichſt anregt und fördert.
Die erſte Vorausſetzung iſt alſo die, daß ſolche der Ent¬
faltung fähigen Kräfte vorhanden ſind, die dem Staate eine
Zukunft verbürgen. Aber es müſſen nicht nur ungeſchwächte
und bildungsfähige Kräfte da ſein, ſondern ſie müſſen auch
ſchon angeregt, geübt, in Anſtrengung bewährt und dadurch
zum Bewußtſein gekommen ſein, wenn ſie der vollkommenen
Entfaltung, in welcher wir das Weſen des glücklichen Zu¬
ſtandes erkennen, nahe ſein ſollen. Eine ſolche Zeit der Er¬
weckung hatte Athen durchlebt, ehe es in die perikleiſche Zeit
eintrat. Kühnes Muths hatte die kleine Bürgerſchaft mit dem
mächtigſten Weltreiche angebunden, indem ſie den aufſtändiſchen
Ioniern Hülfe gewährte; aber dieſer Hülfszug war kein thö¬
richtes und abenteuerliches Unternehmen, ſondern er ging von
dem klaren Bewußtſein aus, daß helleniſches Volk nicht be¬
ſtimmt ſei in Dienſtbarkeit der Barbaren zu ſtehen, und von
der richtigen Erkenntniß, daß die beiden Meerſeiten zu ge¬
meinſamer Geſchichte berufen ſeien, deren Mittelpunkt Athen
ſein müſſe. Es war der erſte Schritt einer unabhängigen
und nationalen Politik, die erſte That einer Großmacht. Frei¬
lich hatte ſich Athen dadurch in einen unabſehlichen Krieg ver¬
wickelt, aber es war ein nothwendiger, ein gerechter und ein
ſegensreicher. Denn alle Verluſte an Gut und Menſchenleben
wurden weit überwogen durch die geiſtige Erhebung, welche
der Gewinn des Sieges war. Nachdem man Stadt und Land
preisgegeben, war die Idee des Staats, als einer von äußerem
Beſitze unabhängigen Gemeinſchaft neu geboren, und die Idee
des Hellenenthums den Athenern in neuer Kraft aufgegangen.
Da war alſo an ein behagliches Ausruhen auf den gewon¬
nenen Lorbern nicht zu denken, ſondern wie man erſt nach
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/320>, abgerufen am 03.07.2024.
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