Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Der historische Sinn der Griechen. Geschichte, welche sich nicht einförmig um einen Mittelpunktbewegte und von den Launen einzelner Machthaber bestimmt wurde, sondern eine inhaltreiche, vielseitige Volksgeschichte, in welcher zum ersten Male alle Formen bürgerlicher Gemein¬ schaft klar zu Tage traten. Dies reiche und rasch pulsirende Leben zu umfassen, würde für die geschichtliche Kunst eine über¬ mäßig schwere Aufgabe gewesen sein, wenn nicht erleichternde Umstände hinzugetreten wären. Dahin gehört die Einfachheit der geselligen Verhältnisse, die Unabhängigkeit ihrer Ent¬ wickelung von fremden Einflüssen, die Kleinheit der Schau¬ plätze, die Oeffentlichkeit des Gemeindelebens und endlich das Normale im Entwickelungsgange der Geschichte. Denn wenn man wahrnahm, daß in den verschiedensten Staaten um die¬ selbe Zeit das Fürstenthum in Geschlechterherrschaft überging, dann die Hebung des Mittelstandes eintrat, dann die Durch¬ gangsperiode der Tyrannis und endlich die Zeit der Gesetz¬ gebungen, welche den Staaten ihr geschichtliches Gepräge gab, so mußte sich aus dieser Wahrnehmung die Vorstellung einer nicht zufällig, sondern gesetzmäßig sich entwickelnden Volksge¬ schichte ergeben. Hier war eine rein äußerliche Betrachtung der Dinge unmöglich; hier mußte die Geschichte gleich Cultur- und Sittengeschichte und Verfassungsgeschichte werden, und in¬ dem der dankbare Stoff mit dem künstlerischen Sinne, der dem Volke eigen ist, gestaltet wurde, erwuchs hier zuerst eine Volksgeschichte im vollen und höchsten Sinne des Worts. Auf die einzelnen Leistungen einzugehen ist nicht dieses Als Kind der Sagenpoesie begann die, Geschichte mit Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. Geſchichte, welche ſich nicht einförmig um einen Mittelpunktbewegte und von den Launen einzelner Machthaber beſtimmt wurde, ſondern eine inhaltreiche, vielſeitige Volksgeſchichte, in welcher zum erſten Male alle Formen bürgerlicher Gemein¬ ſchaft klar zu Tage traten. Dies reiche und raſch pulſirende Leben zu umfaſſen, würde für die geſchichtliche Kunſt eine über¬ mäßig ſchwere Aufgabe geweſen ſein, wenn nicht erleichternde Umſtände hinzugetreten wären. Dahin gehört die Einfachheit der geſelligen Verhältniſſe, die Unabhängigkeit ihrer Ent¬ wickelung von fremden Einflüſſen, die Kleinheit der Schau¬ plätze, die Oeffentlichkeit des Gemeindelebens und endlich das Normale im Entwickelungsgange der Geſchichte. Denn wenn man wahrnahm, daß in den verſchiedenſten Staaten um die¬ ſelbe Zeit das Fürſtenthum in Geſchlechterherrſchaft überging, dann die Hebung des Mittelſtandes eintrat, dann die Durch¬ gangsperiode der Tyrannis und endlich die Zeit der Geſetz¬ gebungen, welche den Staaten ihr geſchichtliches Gepräge gab, ſo mußte ſich aus dieſer Wahrnehmung die Vorſtellung einer nicht zufällig, ſondern geſetzmäßig ſich entwickelnden Volksge¬ ſchichte ergeben. Hier war eine rein äußerliche Betrachtung der Dinge unmöglich; hier mußte die Geſchichte gleich Cultur- und Sittengeſchichte und Verfaſſungsgeſchichte werden, und in¬ dem der dankbare Stoff mit dem künſtleriſchen Sinne, der dem Volke eigen iſt, geſtaltet wurde, erwuchs hier zuerſt eine Volksgeſchichte im vollen und höchſten Sinne des Worts. Auf die einzelnen Leiſtungen einzugehen iſt nicht dieſes Als Kind der Sagenpoeſie begann die, Geſchichte mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0298" n="282"/><fw place="top" type="header">Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.<lb/></fw> Geſchichte, welche ſich nicht einförmig um einen Mittelpunkt<lb/> bewegte und von den Launen einzelner Machthaber beſtimmt<lb/> wurde, ſondern eine inhaltreiche, vielſeitige Volksgeſchichte, in<lb/> welcher zum erſten Male alle Formen bürgerlicher Gemein¬<lb/> ſchaft klar zu Tage traten. Dies reiche und raſch pulſirende<lb/> Leben zu umfaſſen, würde für die geſchichtliche Kunſt eine über¬<lb/> mäßig ſchwere Aufgabe geweſen ſein, wenn nicht erleichternde<lb/> Umſtände hinzugetreten wären. 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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
Geſchichte, welche ſich nicht einförmig um einen Mittelpunkt
bewegte und von den Launen einzelner Machthaber beſtimmt
wurde, ſondern eine inhaltreiche, vielſeitige Volksgeſchichte, in
welcher zum erſten Male alle Formen bürgerlicher Gemein¬
ſchaft klar zu Tage traten. Dies reiche und raſch pulſirende
Leben zu umfaſſen, würde für die geſchichtliche Kunſt eine über¬
mäßig ſchwere Aufgabe geweſen ſein, wenn nicht erleichternde
Umſtände hinzugetreten wären. Dahin gehört die Einfachheit
der geſelligen Verhältniſſe, die Unabhängigkeit ihrer Ent¬
wickelung von fremden Einflüſſen, die Kleinheit der Schau¬
plätze, die Oeffentlichkeit des Gemeindelebens und endlich das
Normale im Entwickelungsgange der Geſchichte. Denn wenn
man wahrnahm, daß in den verſchiedenſten Staaten um die¬
ſelbe Zeit das Fürſtenthum in Geſchlechterherrſchaft überging,
dann die Hebung des Mittelſtandes eintrat, dann die Durch¬
gangsperiode der Tyrannis und endlich die Zeit der Geſetz¬
gebungen, welche den Staaten ihr geſchichtliches Gepräge gab,
ſo mußte ſich aus dieſer Wahrnehmung die Vorſtellung einer
nicht zufällig, ſondern geſetzmäßig ſich entwickelnden Volksge¬
ſchichte ergeben. Hier war eine rein äußerliche Betrachtung
der Dinge unmöglich; hier mußte die Geſchichte gleich Cultur-
und Sittengeſchichte und Verfaſſungsgeſchichte werden, und in¬
dem der dankbare Stoff mit dem künſtleriſchen Sinne, der
dem Volke eigen iſt, geſtaltet wurde, erwuchs hier zuerſt eine
Volksgeſchichte im vollen und höchſten Sinne des Worts.
Auf die einzelnen Leiſtungen einzugehen iſt nicht dieſes
Orts, wo nicht eine Geſchichte der hiſtoriſchen Kunſt der
Griechen gegeben werden ſoll, ſondern nur eine Charakteriſtik
ihres geſchichtlichen Sinns und der Verhältniſſe, unter denen
er ſich entwickelt hat. Alſo ſoll nur in kurzen Worten noch
angedeutet werden, wie die Hellenen dem Gange der Welt¬
begebenheiten gefolgt ſind.
Als Kind der Sagenpoeſie begann die, Geſchichte mit
Sammlung der Erinnerungen, die aus der Vorzeit nachklangen.
Die erſte ſelbſtthätige Forſchung aber entwickelte ſich am Fer¬
nen und Fremden. In Verbindung mit Handel und Coloni¬
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