war der natürliche Niederschlag dessen, was das Volk über seine Vorzeit wußte; was sich aber so im Volksbewußtsein festgesetzt und als Ausdruck desselben bewährt hat, trägt einen Kern unzweifelhafter Wahrheit in sich. Die sorgfältigsten Er¬ mittelungen können täuschen, Herodot und Thukydides können irren, aber die echte Volkssage ist, richtig verstanden, das Ge¬ wisseste, was es giebt.
Die Muse des Epos war die Tochter der Erinnerung; der Sänger war der Hüter derselben, das lebendige Archiv. Darum war kein Gegensatz zwischen Dichtung und Geschichte. Die Geschichte der Hellenen war poetischer als bei andern Völkern, aber die Poesie geschichtlicher. Inhalt des Epos war das bewegte Menschenleben im Staate und im Kriege, zu Land und zu Meer; die Darstellung desselben also die beste Schule des Gedächtnisses, die beste Vorübung für jede ge¬ schichtliche Darstellung, und je enger sich die spätere Poesie dem Epos anschließt, um so mehr theilt sie diese historische Richtung. Jedes Gedicht Pindar's, das den eben gewonnenen Sieg feiert, knüpft das Glück der Gegenwart an die Vorzeit an; wie Herodot, so faßte Aeschylos die vorzeitigen und gegen¬ wärtigen Kämpfe zwischen Asien und Europa in ein Bild zu¬ sammen. Mit echt historischem Sinne nahm die griechische Kunst das Gegenwärtige nie als einen einzelnen Punkt, sondern in lebendigem Zusammenhange mit der Vergangenheit, und eben so lebte man der Ueberzeugung, daß man späteren Ge¬ schlechtern Rechenschaft zu geben habe. So weist Pindar den Tyrannen von Syrakus auf das Urtheil der Geschichte hin: "Laß dich nicht von Schmeichlern bethören. Der Spruch der Nachwelt richtet über unser Leben durch Geschichtschreiber und Sänger!" Als sich nun der Geschichtschreiber vom Sänger trennte und seinem besonderen Berufe nachging, fand er im griechischen Staatenleben freilich keinen Stoff zu einer äußer¬ lich registrirenden Annalistik, einer im conventionellen Stile abzufassenden Hof- und Reichsgeschichte, aber er fand einen Stoff, der sich garnicht bearbeiten ließ, ohne daß man in die inneren Beziehungen des menschlichen Lebens eindrang, eine
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
war der natürliche Niederſchlag deſſen, was das Volk über ſeine Vorzeit wußte; was ſich aber ſo im Volksbewußtſein feſtgeſetzt und als Ausdruck deſſelben bewährt hat, trägt einen Kern unzweifelhafter Wahrheit in ſich. Die ſorgfältigſten Er¬ mittelungen können täuſchen, Herodot und Thukydides können irren, aber die echte Volksſage iſt, richtig verſtanden, das Ge¬ wiſſeſte, was es giebt.
Die Muſe des Epos war die Tochter der Erinnerung; der Sänger war der Hüter derſelben, das lebendige Archiv. Darum war kein Gegenſatz zwiſchen Dichtung und Geſchichte. Die Geſchichte der Hellenen war poetiſcher als bei andern Völkern, aber die Poeſie geſchichtlicher. Inhalt des Epos war das bewegte Menſchenleben im Staate und im Kriege, zu Land und zu Meer; die Darſtellung deſſelben alſo die beſte Schule des Gedächtniſſes, die beſte Vorübung für jede ge¬ ſchichtliche Darſtellung, und je enger ſich die ſpätere Poeſie dem Epos anſchließt, um ſo mehr theilt ſie dieſe hiſtoriſche Richtung. Jedes Gedicht Pindar's, das den eben gewonnenen Sieg feiert, knüpft das Glück der Gegenwart an die Vorzeit an; wie Herodot, ſo faßte Aeſchylos die vorzeitigen und gegen¬ wärtigen Kämpfe zwiſchen Aſien und Europa in ein Bild zu¬ ſammen. Mit echt hiſtoriſchem Sinne nahm die griechiſche Kunſt das Gegenwärtige nie als einen einzelnen Punkt, ſondern in lebendigem Zuſammenhange mit der Vergangenheit, und eben ſo lebte man der Ueberzeugung, daß man ſpäteren Ge¬ ſchlechtern Rechenſchaft zu geben habe. So weiſt Pindar den Tyrannen von Syrakus auf das Urtheil der Geſchichte hin: »Laß dich nicht von Schmeichlern bethören. Der Spruch der Nachwelt richtet über unſer Leben durch Geſchichtſchreiber und Sänger!« Als ſich nun der Geſchichtſchreiber vom Sänger trennte und ſeinem beſonderen Berufe nachging, fand er im griechiſchen Staatenleben freilich keinen Stoff zu einer äußer¬ lich regiſtrirenden Annaliſtik, einer im conventionellen Stile abzufaſſenden Hof- und Reichsgeſchichte, aber er fand einen Stoff, der ſich garnicht bearbeiten ließ, ohne daß man in die inneren Beziehungen des menſchlichen Lebens eindrang, eine
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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
war der natürliche Niederſchlag deſſen, was das Volk über
ſeine Vorzeit wußte; was ſich aber ſo im Volksbewußtſein
feſtgeſetzt und als Ausdruck deſſelben bewährt hat, trägt einen
Kern unzweifelhafter Wahrheit in ſich. Die ſorgfältigſten Er¬
mittelungen können täuſchen, Herodot und Thukydides können
irren, aber die echte Volksſage iſt, richtig verſtanden, das Ge¬
wiſſeſte, was es giebt.
Die Muſe des Epos war die Tochter der Erinnerung;
der Sänger war der Hüter derſelben, das lebendige Archiv.
Darum war kein Gegenſatz zwiſchen Dichtung und Geſchichte.
Die Geſchichte der Hellenen war poetiſcher als bei andern
Völkern, aber die Poeſie geſchichtlicher. Inhalt des Epos
war das bewegte Menſchenleben im Staate und im Kriege,
zu Land und zu Meer; die Darſtellung deſſelben alſo die beſte
Schule des Gedächtniſſes, die beſte Vorübung für jede ge¬
ſchichtliche Darſtellung, und je enger ſich die ſpätere Poeſie
dem Epos anſchließt, um ſo mehr theilt ſie dieſe hiſtoriſche
Richtung. Jedes Gedicht Pindar's, das den eben gewonnenen
Sieg feiert, knüpft das Glück der Gegenwart an die Vorzeit
an; wie Herodot, ſo faßte Aeſchylos die vorzeitigen und gegen¬
wärtigen Kämpfe zwiſchen Aſien und Europa in ein Bild zu¬
ſammen. Mit echt hiſtoriſchem Sinne nahm die griechiſche
Kunſt das Gegenwärtige nie als einen einzelnen Punkt, ſondern
in lebendigem Zuſammenhange mit der Vergangenheit, und
eben ſo lebte man der Ueberzeugung, daß man ſpäteren Ge¬
ſchlechtern Rechenſchaft zu geben habe. So weiſt Pindar den
Tyrannen von Syrakus auf das Urtheil der Geſchichte hin:
»Laß dich nicht von Schmeichlern bethören. Der Spruch der
Nachwelt richtet über unſer Leben durch Geſchichtſchreiber und
Sänger!« Als ſich nun der Geſchichtſchreiber vom Sänger
trennte und ſeinem beſonderen Berufe nachging, fand er im
griechiſchen Staatenleben freilich keinen Stoff zu einer äußer¬
lich regiſtrirenden Annaliſtik, einer im conventionellen Stile
abzufaſſenden Hof- und Reichsgeſchichte, aber er fand einen
Stoff, der ſich garnicht bearbeiten ließ, ohne daß man in die
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/297>, abgerufen am 18.06.2024.
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