hange standen, persönlich mit einander verkehren, wie König Numa und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬ schen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬ mittelbar aus des Dichters Händen seine Werke in Empfang nehmen. Es ist eine poetische Anschauung, welche ihren großen Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewisse Unlust an sorgfältiger Prüfung der Thatsachen und historischer Kritik zu Grunde, und in so fern hat sie ohne Zweifel dazu beigetragen, den Blick für geschichtliche Verhältnisse zu trüben.
Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬ chischen Geistes, in welcher sich eine wissenschaftlichere Ge¬ schichtsbetrachtung hätte ausbilden können, eine so tief und vielfach bewegte, daß es dazu an Muße und Ruhe fehlte. Man denke, was seit Anfang der Olympiaden auf engem Raum in den zahllosen Cantonen Griechenlands für eine gäh¬ rende Bewegung stattfand, da sich die neuen Staaten auf den Trümmern der alten gründeten und unter äußeren und inneren Kämpfen ihre gegenseitigen Verhältnisse gestalteten. In den meisten Staaten folgten rasche Umschwünge auf einander, Um¬ sturz des Fürstenthums, Aufhebung der Geschlechtsprivilegien, Gewaltherrschaften, die nach kurzem Glanze wieder anderen bürgerlichen Ordnungen Platz machten. Da war ein volles, den Aufgaben des Tages hingegebenes, von Parteien beweg¬ tes, nach allen Seiten angeregtes öffentliches Leben, und diese Geschäftigkeit bezog sich nicht bloß auf die inneren Angelegen¬ heiten, auf Regierung und Gesetzgebung, auf Ausbildung der Feste, auf Gymnastik und Kunst, sondern es ging weit über die Gränzen der Heimath hinaus; neue Seewege wurden ent¬ deckt, neue Handelsverbindungen angeknüpft, Pflanzstädte an allen Gestaden des Meers gegründet. Je kleiner aber die Gemeinden waren, um so unmittelbarer wurde Alles in die rastlose Geschäftigkeit mit herein gezogen; es war kein Stand unbetheiligt, es blieb kein Platz stiller Beschaulichkeit; man hatte keine Zeit an die Vergangenheit zu denken; die Bewegung war zu mächtig, um sie übersehen und beherrschen zu können; man machte zu viel Geschichte, um Geschichte zu schreiben.
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
hange ſtanden, perſönlich mit einander verkehren, wie König Numa und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬ ſchen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬ mittelbar aus des Dichters Händen ſeine Werke in Empfang nehmen. Es iſt eine poetiſche Anſchauung, welche ihren großen Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewiſſe Unluſt an ſorgfältiger Prüfung der Thatſachen und hiſtoriſcher Kritik zu Grunde, und in ſo fern hat ſie ohne Zweifel dazu beigetragen, den Blick für geſchichtliche Verhältniſſe zu trüben.
Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬ chiſchen Geiſtes, in welcher ſich eine wiſſenſchaftlichere Ge¬ ſchichtsbetrachtung hätte ausbilden können, eine ſo tief und vielfach bewegte, daß es dazu an Muße und Ruhe fehlte. Man denke, was ſeit Anfang der Olympiaden auf engem Raum in den zahlloſen Cantonen Griechenlands für eine gäh¬ rende Bewegung ſtattfand, da ſich die neuen Staaten auf den Trümmern der alten gründeten und unter äußeren und inneren Kämpfen ihre gegenſeitigen Verhältniſſe geſtalteten. In den meiſten Staaten folgten raſche Umſchwünge auf einander, Um¬ ſturz des Fürſtenthums, Aufhebung der Geſchlechtsprivilegien, Gewaltherrſchaften, die nach kurzem Glanze wieder anderen bürgerlichen Ordnungen Platz machten. Da war ein volles, den Aufgaben des Tages hingegebenes, von Parteien beweg¬ tes, nach allen Seiten angeregtes öffentliches Leben, und dieſe Geſchäftigkeit bezog ſich nicht bloß auf die inneren Angelegen¬ heiten, auf Regierung und Geſetzgebung, auf Ausbildung der Feſte, auf Gymnaſtik und Kunſt, ſondern es ging weit über die Gränzen der Heimath hinaus; neue Seewege wurden ent¬ deckt, neue Handelsverbindungen angeknüpft, Pflanzſtädte an allen Geſtaden des Meers gegründet. Je kleiner aber die Gemeinden waren, um ſo unmittelbarer wurde Alles in die raſtloſe Geſchäftigkeit mit herein gezogen; es war kein Stand unbetheiligt, es blieb kein Platz ſtiller Beſchaulichkeit; man hatte keine Zeit an die Vergangenheit zu denken; die Bewegung war zu mächtig, um ſie überſehen und beherrſchen zu können; man machte zu viel Geſchichte, um Geſchichte zu ſchreiben.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0292"n="276"/><fwplace="top"type="header">Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.<lb/></fw> hange ſtanden, perſönlich mit einander verkehren, wie König<lb/>
Numa und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬<lb/>ſchen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬<lb/>
mittelbar aus des Dichters Händen ſeine Werke in Empfang<lb/>
nehmen. Es iſt eine poetiſche Anſchauung, welche ihren großen<lb/>
Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewiſſe Unluſt an ſorgfältiger<lb/>
Prüfung der Thatſachen und hiſtoriſcher Kritik zu Grunde,<lb/>
und in ſo fern hat ſie ohne Zweifel dazu beigetragen, den<lb/>
Blick für geſchichtliche Verhältniſſe zu trüben.</p><lb/><p>Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬<lb/>
chiſchen Geiſtes, in welcher ſich eine wiſſenſchaftlichere Ge¬<lb/>ſchichtsbetrachtung hätte ausbilden können, eine ſo tief und<lb/>
vielfach bewegte, daß es dazu an Muße und Ruhe fehlte.<lb/>
Man denke, was ſeit Anfang der Olympiaden auf engem<lb/>
Raum in den zahlloſen Cantonen Griechenlands für eine gäh¬<lb/>
rende Bewegung ſtattfand, da ſich die neuen Staaten auf den<lb/>
Trümmern der alten gründeten und unter äußeren und inneren<lb/>
Kämpfen ihre gegenſeitigen Verhältniſſe geſtalteten. In den<lb/>
meiſten Staaten folgten raſche Umſchwünge auf einander, Um¬<lb/>ſturz des Fürſtenthums, Aufhebung der Geſchlechtsprivilegien,<lb/>
Gewaltherrſchaften, die nach kurzem Glanze wieder anderen<lb/>
bürgerlichen Ordnungen Platz machten. Da war ein volles,<lb/>
den Aufgaben des Tages hingegebenes, von Parteien beweg¬<lb/>
tes, nach allen Seiten angeregtes öffentliches Leben, und dieſe<lb/>
Geſchäftigkeit bezog ſich nicht bloß auf die inneren Angelegen¬<lb/>
heiten, auf Regierung und Geſetzgebung, auf Ausbildung der<lb/>
Feſte, auf Gymnaſtik und Kunſt, ſondern es ging weit über<lb/>
die Gränzen der Heimath hinaus; neue Seewege wurden ent¬<lb/>
deckt, neue Handelsverbindungen angeknüpft, Pflanzſtädte an<lb/>
allen Geſtaden des Meers gegründet. Je kleiner aber die<lb/>
Gemeinden waren, um ſo unmittelbarer wurde Alles in die<lb/>
raſtloſe Geſchäftigkeit mit herein gezogen; es war kein Stand<lb/>
unbetheiligt, es blieb kein Platz ſtiller Beſchaulichkeit; man<lb/>
hatte keine Zeit an die Vergangenheit zu denken; die Bewegung<lb/>
war zu mächtig, um ſie überſehen und beherrſchen zu können;<lb/>
man machte zu viel Geſchichte, um Geſchichte zu ſchreiben.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[276/0292]
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
hange ſtanden, perſönlich mit einander verkehren, wie König
Numa und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬
ſchen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬
mittelbar aus des Dichters Händen ſeine Werke in Empfang
nehmen. Es iſt eine poetiſche Anſchauung, welche ihren großen
Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewiſſe Unluſt an ſorgfältiger
Prüfung der Thatſachen und hiſtoriſcher Kritik zu Grunde,
und in ſo fern hat ſie ohne Zweifel dazu beigetragen, den
Blick für geſchichtliche Verhältniſſe zu trüben.
Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬
chiſchen Geiſtes, in welcher ſich eine wiſſenſchaftlichere Ge¬
ſchichtsbetrachtung hätte ausbilden können, eine ſo tief und
vielfach bewegte, daß es dazu an Muße und Ruhe fehlte.
Man denke, was ſeit Anfang der Olympiaden auf engem
Raum in den zahlloſen Cantonen Griechenlands für eine gäh¬
rende Bewegung ſtattfand, da ſich die neuen Staaten auf den
Trümmern der alten gründeten und unter äußeren und inneren
Kämpfen ihre gegenſeitigen Verhältniſſe geſtalteten. In den
meiſten Staaten folgten raſche Umſchwünge auf einander, Um¬
ſturz des Fürſtenthums, Aufhebung der Geſchlechtsprivilegien,
Gewaltherrſchaften, die nach kurzem Glanze wieder anderen
bürgerlichen Ordnungen Platz machten. Da war ein volles,
den Aufgaben des Tages hingegebenes, von Parteien beweg¬
tes, nach allen Seiten angeregtes öffentliches Leben, und dieſe
Geſchäftigkeit bezog ſich nicht bloß auf die inneren Angelegen¬
heiten, auf Regierung und Geſetzgebung, auf Ausbildung der
Feſte, auf Gymnaſtik und Kunſt, ſondern es ging weit über
die Gränzen der Heimath hinaus; neue Seewege wurden ent¬
deckt, neue Handelsverbindungen angeknüpft, Pflanzſtädte an
allen Geſtaden des Meers gegründet. Je kleiner aber die
Gemeinden waren, um ſo unmittelbarer wurde Alles in die
raſtloſe Geſchäftigkeit mit herein gezogen; es war kein Stand
unbetheiligt, es blieb kein Platz ſtiller Beſchaulichkeit; man
hatte keine Zeit an die Vergangenheit zu denken; die Bewegung
war zu mächtig, um ſie überſehen und beherrſchen zu können;
man machte zu viel Geſchichte, um Geſchichte zu ſchreiben.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/292>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.