wünschten Symmetrie zu Liebe das kaspische Meer eine Bucht des Nordmeers sein, wie das persische Meer der Südsee, und nach der Voraussetzung, daß die Donau in Richtung und Länge dem Nile entspreche, entwarf Herodot seine Karte von den Wohnsitzen der Scythen.
Diese falsche Systematik verband sich mit gewissen volks¬ thümlichen Anschauungen, mit denen eine unbefangene Welt¬ betrachtung unverträglich war. Im Bewußtsein ihrer Vor¬ züge betrachteten sich die Hellenen als ein bevorrechtetes Ge¬ schlecht unter den Völkern der Erde, als den einzigen Zweig der Menschheit, welcher zu einer vollen Entwickelung des geistigen Lebens in Gesetzgebung, Kunst und Wissenschaft berufen sei. Von diesem Standpunkte aus konnten sie den anderen Nationen, welche sie als untergeordnete Racen ansahen, keine unpar¬ teiische Beachtung zuwenden und ihre ganze Geschichtsbe¬ trachtung mußte eine einseitige sein. Daran knüpften sich an¬ dere Vorurtheile. Man dachte sich die Herde des geistigen Lebens auch als räumliche Mittelpunkte. Darum mußte die Erde das Centrum der Welt sein und Hellas, mit Delphi in der Mitte, das Centrum der Erde. Traf man also im Osten des Meeres verwandte Stämme, so mußten diese von Westen nach Osten eingewandert sein. An diesen nationalen An¬ schauungen hielt man mit Zähigkeit fest, auch nachdem die Wissenschaft sie längst widerlegt hatte, und verketzerte noch im zweiten Jahrhunderte v. Chr. die großen Astronomen, die Vorgänger des Copernicus, weil sie den heiligen Herd der Welt zu bewegen wagten.
Mit dem Streben nach systematischer Anordnung hängt eine andere Richtung zusammen, welche die unbefangene Auf¬ fassung des Thatsächlichen noch mehr beeinträchtigen mußte; das ist die Abneigung gegen die Willkür des Zufalls. Die Griechen wollten in der Poesie dem Zufalle keinen Spielraum lassen, weil er die Einheitlichkeit menschlicher Handlungen zer¬ stört, und da sie ihren künstlerischen Sinn überall geltend machten, wollten sie das Zufällige auch aus der Geschichte verdrängen. Auch in ihr sollte Alles mit innerer Nothwen¬
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
wünſchten Symmetrie zu Liebe das kaſpiſche Meer eine Bucht des Nordmeers ſein, wie das perſiſche Meer der Südſee, und nach der Vorausſetzung, daß die Donau in Richtung und Länge dem Nile entſpreche, entwarf Herodot ſeine Karte von den Wohnſitzen der Scythen.
Dieſe falſche Syſtematik verband ſich mit gewiſſen volks¬ thümlichen Anſchauungen, mit denen eine unbefangene Welt¬ betrachtung unverträglich war. Im Bewußtſein ihrer Vor¬ züge betrachteten ſich die Hellenen als ein bevorrechtetes Ge¬ ſchlecht unter den Völkern der Erde, als den einzigen Zweig der Menſchheit, welcher zu einer vollen Entwickelung des geiſtigen Lebens in Geſetzgebung, Kunſt und Wiſſenſchaft berufen ſei. Von dieſem Standpunkte aus konnten ſie den anderen Nationen, welche ſie als untergeordnete Racen anſahen, keine unpar¬ teiiſche Beachtung zuwenden und ihre ganze Geſchichtsbe¬ trachtung mußte eine einſeitige ſein. Daran knüpften ſich an¬ dere Vorurtheile. Man dachte ſich die Herde des geiſtigen Lebens auch als räumliche Mittelpunkte. Darum mußte die Erde das Centrum der Welt ſein und Hellas, mit Delphi in der Mitte, das Centrum der Erde. Traf man alſo im Oſten des Meeres verwandte Stämme, ſo mußten dieſe von Weſten nach Oſten eingewandert ſein. An dieſen nationalen An¬ ſchauungen hielt man mit Zähigkeit feſt, auch nachdem die Wiſſenſchaft ſie längſt widerlegt hatte, und verketzerte noch im zweiten Jahrhunderte v. Chr. die großen Aſtronomen, die Vorgänger des Copernicus, weil ſie den heiligen Herd der Welt zu bewegen wagten.
Mit dem Streben nach ſyſtematiſcher Anordnung hängt eine andere Richtung zuſammen, welche die unbefangene Auf¬ faſſung des Thatſächlichen noch mehr beeinträchtigen mußte; das iſt die Abneigung gegen die Willkür des Zufalls. Die Griechen wollten in der Poeſie dem Zufalle keinen Spielraum laſſen, weil er die Einheitlichkeit menſchlicher Handlungen zer¬ ſtört, und da ſie ihren künſtleriſchen Sinn überall geltend machten, wollten ſie das Zufällige auch aus der Geſchichte verdrängen. Auch in ihr ſollte Alles mit innerer Nothwen¬
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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
wünſchten Symmetrie zu Liebe das kaſpiſche Meer eine Bucht
des Nordmeers ſein, wie das perſiſche Meer der Südſee, und
nach der Vorausſetzung, daß die Donau in Richtung und
Länge dem Nile entſpreche, entwarf Herodot ſeine Karte von
den Wohnſitzen der Scythen.
Dieſe falſche Syſtematik verband ſich mit gewiſſen volks¬
thümlichen Anſchauungen, mit denen eine unbefangene Welt¬
betrachtung unverträglich war. Im Bewußtſein ihrer Vor¬
züge betrachteten ſich die Hellenen als ein bevorrechtetes Ge¬
ſchlecht unter den Völkern der Erde, als den einzigen Zweig der
Menſchheit, welcher zu einer vollen Entwickelung des geiſtigen
Lebens in Geſetzgebung, Kunſt und Wiſſenſchaft berufen ſei.
Von dieſem Standpunkte aus konnten ſie den anderen Nationen,
welche ſie als untergeordnete Racen anſahen, keine unpar¬
teiiſche Beachtung zuwenden und ihre ganze Geſchichtsbe¬
trachtung mußte eine einſeitige ſein. Daran knüpften ſich an¬
dere Vorurtheile. Man dachte ſich die Herde des geiſtigen
Lebens auch als räumliche Mittelpunkte. Darum mußte die
Erde das Centrum der Welt ſein und Hellas, mit Delphi in
der Mitte, das Centrum der Erde. Traf man alſo im Oſten
des Meeres verwandte Stämme, ſo mußten dieſe von Weſten
nach Oſten eingewandert ſein. An dieſen nationalen An¬
ſchauungen hielt man mit Zähigkeit feſt, auch nachdem die
Wiſſenſchaft ſie längſt widerlegt hatte, und verketzerte noch im
zweiten Jahrhunderte v. Chr. die großen Aſtronomen, die
Vorgänger des Copernicus, weil ſie den heiligen Herd der
Welt zu bewegen wagten.
Mit dem Streben nach ſyſtematiſcher Anordnung hängt
eine andere Richtung zuſammen, welche die unbefangene Auf¬
faſſung des Thatſächlichen noch mehr beeinträchtigen mußte;
das iſt die Abneigung gegen die Willkür des Zufalls. Die
Griechen wollten in der Poeſie dem Zufalle keinen Spielraum
laſſen, weil er die Einheitlichkeit menſchlicher Handlungen zer¬
ſtört, und da ſie ihren künſtleriſchen Sinn überall geltend
machten, wollten ſie das Zufällige auch aus der Geſchichte
verdrängen. Auch in ihr ſollte Alles mit innerer Nothwen¬
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/287>, abgerufen am 22.07.2024.
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