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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
der Staatsgemeinschaft getrübt war, als Parteien sich bildeten
und damit Mißtrauen und Eifersucht zwischen den verschiedenen
Bürgerklassen erwachte, stellte sich das Bedürfniß geschriebener
Gesetze ein. Aber auch dann wollte man zunächst keine Grund¬
gesetze der Verfassung, sondern Aufzeichnung von Strafrechten,
um der richterlichen Willkür zu steuern. Erst in solchen Staaten,
welche sich aus Bürgern verschiedener Herkunft neu bildeten
und also kein Erbtheil gemeinsamer Sitte hatten, vornehmlich
also in Pflanzstädten, wurde es nöthig ein öffentliches Recht
zu gründen, ein Recht, das aus Vergleichung der an ver¬
schiedenen Orten geltenden Rechte entstand, also ein Werk
künstlicher Zusammensetzung, welches ein innerliches Eigen¬
thum der Bürger nicht sein konnte und ihnen deshalb äußer¬
lich, in geschriebenen Satzungen vor Augen gestellt werden
mußte. Je verwickelter nun auch im Mutterlande die Lebens¬
verhältnisse wurden, und je mehr sich die alten Bürgergemeinden
durch fremden Zuzug zersetzten, um so mehr dehnte sich der
Gebrauch geschriebener Gesetzgebungen aus; aber immer blieb
im griechischen Volksgeiste eine Stimmung zurück, welche sich
gegen die Herrschaft des Buchstabens sträubte, im Gerichts¬
wesen sowohl wie im Verfassungsleben. Was das Erstere be¬
trifft, so trugen schon die Geschworenengerichte, wie sie sich in
Athen ausgebildet hatten, dazu bei, daß im Ganzen mehr
nach dem Geiste der Gesetze als nach dem Buchstaben ent¬
schieden wurde. Die Richter waren nicht dazu da, einen be¬
stimmten Gesetzparagraphen auf den vorliegenden Fall anzu¬
wenden, sondern vielmehr aus ihrem in der Zucht des Ge¬
setzes gebildeten Rechtsgefühle zu entscheiden; eine freie und
selbständige Thätigkeit ward in Anspruch genommen, und die
Kunst wortklauberischer Anwälte hat auf dem attischen Forum
niemals einen Boden gefunden. Darin liegt neben dem edlen
Streben nach geistiger Auffassung des Rechts auch eine un¬
verkennbare Einseitigkeit und Schwäche. Darum ging den
Griechen, so große Verdienste sie um die Rechtsbildung sich
auch erworben haben, doch die Schärfe juristischer Bildung
ab, und niemals haben sie einen Juristenstand gehabt, welcher

Wort und Schrift.
der Staatsgemeinſchaft getrübt war, als Parteien ſich bildeten
und damit Mißtrauen und Eiferſucht zwiſchen den verſchiedenen
Bürgerklaſſen erwachte, ſtellte ſich das Bedürfniß geſchriebener
Geſetze ein. Aber auch dann wollte man zunächſt keine Grund¬
geſetze der Verfaſſung, ſondern Aufzeichnung von Strafrechten,
um der richterlichen Willkür zu ſteuern. Erſt in ſolchen Staaten,
welche ſich aus Bürgern verſchiedener Herkunft neu bildeten
und alſo kein Erbtheil gemeinſamer Sitte hatten, vornehmlich
alſo in Pflanzſtädten, wurde es nöthig ein öffentliches Recht
zu gründen, ein Recht, das aus Vergleichung der an ver¬
ſchiedenen Orten geltenden Rechte entſtand, alſo ein Werk
künſtlicher Zuſammenſetzung, welches ein innerliches Eigen¬
thum der Bürger nicht ſein konnte und ihnen deshalb äußer¬
lich, in geſchriebenen Satzungen vor Augen geſtellt werden
mußte. Je verwickelter nun auch im Mutterlande die Lebens¬
verhältniſſe wurden, und je mehr ſich die alten Bürgergemeinden
durch fremden Zuzug zerſetzten, um ſo mehr dehnte ſich der
Gebrauch geſchriebener Geſetzgebungen aus; aber immer blieb
im griechiſchen Volksgeiſte eine Stimmung zurück, welche ſich
gegen die Herrſchaft des Buchſtabens ſträubte, im Gerichts¬
weſen ſowohl wie im Verfaſſungsleben. Was das Erſtere be¬
trifft, ſo trugen ſchon die Geſchworenengerichte, wie ſie ſich in
Athen ausgebildet hatten, dazu bei, daß im Ganzen mehr
nach dem Geiſte der Geſetze als nach dem Buchſtaben ent¬
ſchieden wurde. Die Richter waren nicht dazu da, einen be¬
ſtimmten Geſetzparagraphen auf den vorliegenden Fall anzu¬
wenden, ſondern vielmehr aus ihrem in der Zucht des Ge¬
ſetzes gebildeten Rechtsgefühle zu entſcheiden; eine freie und
ſelbſtändige Thätigkeit ward in Anſpruch genommen, und die
Kunſt wortklauberiſcher Anwälte hat auf dem attiſchen Forum
niemals einen Boden gefunden. Darin liegt neben dem edlen
Streben nach geiſtiger Auffaſſung des Rechts auch eine un¬
verkennbare Einſeitigkeit und Schwäche. Darum ging den
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[255/0271] Wort und Schrift. der Staatsgemeinſchaft getrübt war, als Parteien ſich bildeten und damit Mißtrauen und Eiferſucht zwiſchen den verſchiedenen Bürgerklaſſen erwachte, ſtellte ſich das Bedürfniß geſchriebener Geſetze ein. Aber auch dann wollte man zunächſt keine Grund¬ geſetze der Verfaſſung, ſondern Aufzeichnung von Strafrechten, um der richterlichen Willkür zu ſteuern. Erſt in ſolchen Staaten, welche ſich aus Bürgern verſchiedener Herkunft neu bildeten und alſo kein Erbtheil gemeinſamer Sitte hatten, vornehmlich alſo in Pflanzſtädten, wurde es nöthig ein öffentliches Recht zu gründen, ein Recht, das aus Vergleichung der an ver¬ ſchiedenen Orten geltenden Rechte entſtand, alſo ein Werk künſtlicher Zuſammenſetzung, welches ein innerliches Eigen¬ thum der Bürger nicht ſein konnte und ihnen deshalb äußer¬ lich, in geſchriebenen Satzungen vor Augen geſtellt werden mußte. Je verwickelter nun auch im Mutterlande die Lebens¬ verhältniſſe wurden, und je mehr ſich die alten Bürgergemeinden durch fremden Zuzug zerſetzten, um ſo mehr dehnte ſich der Gebrauch geſchriebener Geſetzgebungen aus; aber immer blieb im griechiſchen Volksgeiſte eine Stimmung zurück, welche ſich gegen die Herrſchaft des Buchſtabens ſträubte, im Gerichts¬ weſen ſowohl wie im Verfaſſungsleben. Was das Erſtere be¬ trifft, ſo trugen ſchon die Geſchworenengerichte, wie ſie ſich in Athen ausgebildet hatten, dazu bei, daß im Ganzen mehr nach dem Geiſte der Geſetze als nach dem Buchſtaben ent¬ ſchieden wurde. Die Richter waren nicht dazu da, einen be¬ ſtimmten Geſetzparagraphen auf den vorliegenden Fall anzu¬ wenden, ſondern vielmehr aus ihrem in der Zucht des Ge¬ ſetzes gebildeten Rechtsgefühle zu entſcheiden; eine freie und ſelbſtändige Thätigkeit ward in Anſpruch genommen, und die Kunſt wortklauberiſcher Anwälte hat auf dem attiſchen Forum niemals einen Boden gefunden. Darin liegt neben dem edlen Streben nach geiſtiger Auffaſſung des Rechts auch eine un¬ verkennbare Einſeitigkeit und Schwäche. Darum ging den Griechen, ſo große Verdienſte ſie um die Rechtsbildung ſich auch erworben haben, doch die Schärfe juriſtiſcher Bildung ab, und niemals haben ſie einen Juriſtenſtand gehabt, welcher

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/271>, abgerufen am 23.11.2024.