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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten.
deutete Vergleiche dieser Art als eine Profanation erscheinen
könnten. Denn das ist ja ein herrliches Zeugniß für die
Offenbarung, daß alles wahrhaft Menschliche in ihr seine
Erfüllung findet, und das ist doch eine der würdigsten Auf¬
gaben der Wissenschaft, diesen großen Zusammenhang des echt
Menschlichen und darum ewig Gültigen in den Völkern aller
Zeiten nachzuweisen; das ist die Aufgabe der wahren Philo¬
logie, welche Niebuhr eine Vermittlerin der Ewigkeit nannte.

Der hohe Glaube, welcher Plato begeisterte, trägt und
hebt ja auch uns, und zwar nicht nur in einzelnen, feierlichen
Momenten, sondern unausgesetzt und mitten in unsern täg¬
lichen Arbeiten; ohne ihn wären wir nichts als armselige
Tagelöhner, durch ihn erhält Alles, was wir beginnen, Be¬
deutung und Zusammenhang. Denn daß die Anschauung eines
jenseitigen Lebens nicht zur Geringschätzung des irdischen Da¬
seins und zu einer Verabsäumung seiner Aufgaben führe, er¬
kennen wir an demselben Volke, das wir heute in seinem Ver¬
hältnisse zur Unsterblichkeitslehre betrachtet haben. Freilich
galt bei den Griechen der uralte Wahrspruch, daß nicht ge¬
boren zu sein das allerbeste Loos wäre; freilich kamen auch
bei ihnen Leute vor, welche, wie der Sophist Antiphon sagt,
das gegenwärtige Leben nicht leben, sondern mit allem Eifer
auf ein zukünftiges sich vorbereiten, so daß ihnen die Zeit
unterdeß ungenutzt verstreiche. Aber aus diesen Lebens¬
anschauungen tritt uns nur wieder aufs Neue entgegen, wie
deutlich die Hellenen sich dessen bewußt waren, daß die Menschen¬
seele zu einem höheren, freieren und ihrem Wesen entsprechen¬
deren Dasein berufen sei. Sonst haben sie von allen Völkern
der Erde am wenigsten in trüber Melancholie das irdische
Dasein verabsäumt, und daß ihr Unsterblichkeitsglaube die
Energie des Handelns nicht lähmte, beweist Niemand besser,
als Sokrates. Denn wer war bis zum letzten Athemzuge
treuer als er den Gesetzen des Staats und eifriger für seine
Freunde? Auch die Pythagoreer führte ihre Seelenlehre keines¬
wegs zu einer melancholischen Auffassung des Menschenlebens;
sie wurden nicht zu Träumern und Schwärmern, welche etwa

Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
deutete Vergleiche dieſer Art als eine Profanation erſcheinen
könnten. Denn das iſt ja ein herrliches Zeugniß für die
Offenbarung, daß alles wahrhaft Menſchliche in ihr ſeine
Erfüllung findet, und das iſt doch eine der würdigſten Auf¬
gaben der Wiſſenſchaft, dieſen großen Zuſammenhang des echt
Menſchlichen und darum ewig Gültigen in den Völkern aller
Zeiten nachzuweiſen; das iſt die Aufgabe der wahren Philo¬
logie, welche Niebuhr eine Vermittlerin der Ewigkeit nannte.

Der hohe Glaube, welcher Plato begeiſterte, trägt und
hebt ja auch uns, und zwar nicht nur in einzelnen, feierlichen
Momenten, ſondern unausgeſetzt und mitten in unſern täg¬
lichen Arbeiten; ohne ihn wären wir nichts als armſelige
Tagelöhner, durch ihn erhält Alles, was wir beginnen, Be¬
deutung und Zuſammenhang. Denn daß die Anſchauung eines
jenſeitigen Lebens nicht zur Geringſchätzung des irdiſchen Da¬
ſeins und zu einer Verabſäumung ſeiner Aufgaben führe, er¬
kennen wir an demſelben Volke, das wir heute in ſeinem Ver¬
hältniſſe zur Unſterblichkeitslehre betrachtet haben. Freilich
galt bei den Griechen der uralte Wahrſpruch, daß nicht ge¬
boren zu ſein das allerbeſte Loos wäre; freilich kamen auch
bei ihnen Leute vor, welche, wie der Sophiſt Antiphon ſagt,
das gegenwärtige Leben nicht leben, ſondern mit allem Eifer
auf ein zukünftiges ſich vorbereiten, ſo daß ihnen die Zeit
unterdeß ungenutzt verſtreiche. Aber aus dieſen Lebens¬
anſchauungen tritt uns nur wieder aufs Neue entgegen, wie
deutlich die Hellenen ſich deſſen bewußt waren, daß die Menſchen¬
ſeele zu einem höheren, freieren und ihrem Weſen entſprechen¬
deren Daſein berufen ſei. Sonſt haben ſie von allen Völkern
der Erde am wenigſten in trüber Melancholie das irdiſche
Daſein verabſäumt, und daß ihr Unſterblichkeitsglaube die
Energie des Handelns nicht lähmte, beweiſt Niemand beſſer,
als Sokrates. Denn wer war bis zum letzten Athemzuge
treuer als er den Geſetzen des Staats und eifriger für ſeine
Freunde? Auch die Pythagoreer führte ihre Seelenlehre keines¬
wegs zu einer melancholiſchen Auffaſſung des Menſchenlebens;
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[235/0251] Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. deutete Vergleiche dieſer Art als eine Profanation erſcheinen könnten. Denn das iſt ja ein herrliches Zeugniß für die Offenbarung, daß alles wahrhaft Menſchliche in ihr ſeine Erfüllung findet, und das iſt doch eine der würdigſten Auf¬ gaben der Wiſſenſchaft, dieſen großen Zuſammenhang des echt Menſchlichen und darum ewig Gültigen in den Völkern aller Zeiten nachzuweiſen; das iſt die Aufgabe der wahren Philo¬ logie, welche Niebuhr eine Vermittlerin der Ewigkeit nannte. Der hohe Glaube, welcher Plato begeiſterte, trägt und hebt ja auch uns, und zwar nicht nur in einzelnen, feierlichen Momenten, ſondern unausgeſetzt und mitten in unſern täg¬ lichen Arbeiten; ohne ihn wären wir nichts als armſelige Tagelöhner, durch ihn erhält Alles, was wir beginnen, Be¬ deutung und Zuſammenhang. Denn daß die Anſchauung eines jenſeitigen Lebens nicht zur Geringſchätzung des irdiſchen Da¬ ſeins und zu einer Verabſäumung ſeiner Aufgaben führe, er¬ kennen wir an demſelben Volke, das wir heute in ſeinem Ver¬ hältniſſe zur Unſterblichkeitslehre betrachtet haben. Freilich galt bei den Griechen der uralte Wahrſpruch, daß nicht ge¬ boren zu ſein das allerbeſte Loos wäre; freilich kamen auch bei ihnen Leute vor, welche, wie der Sophiſt Antiphon ſagt, das gegenwärtige Leben nicht leben, ſondern mit allem Eifer auf ein zukünftiges ſich vorbereiten, ſo daß ihnen die Zeit unterdeß ungenutzt verſtreiche. Aber aus dieſen Lebens¬ anſchauungen tritt uns nur wieder aufs Neue entgegen, wie deutlich die Hellenen ſich deſſen bewußt waren, daß die Menſchen¬ ſeele zu einem höheren, freieren und ihrem Weſen entſprechen¬ deren Daſein berufen ſei. Sonſt haben ſie von allen Völkern der Erde am wenigſten in trüber Melancholie das irdiſche Daſein verabſäumt, und daß ihr Unſterblichkeitsglaube die Energie des Handelns nicht lähmte, beweiſt Niemand beſſer, als Sokrates. Denn wer war bis zum letzten Athemzuge treuer als er den Geſetzen des Staats und eifriger für ſeine Freunde? Auch die Pythagoreer führte ihre Seelenlehre keines¬ wegs zu einer melancholiſchen Auffaſſung des Menſchenlebens; ſie wurden nicht zu Träumern und Schwärmern, welche etwa

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/251>, abgerufen am 23.11.2024.