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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Unfreiheit der alten Welt.
sich in das Allgemeine verliert und die Unterschiede verschwim¬
men. Dabei kann persönliche Freiheit, eigene Verantwortlich¬
keit, Maß und Schönheit des sittlichen Lebens, das in der
Freiheit wurzelt, nicht bestehen. Die zufällige Geburtsstunde
entscheidet über das ganze Menschenleben und Zahlen herrschen
statt des freien Willens. Wo solche Weltanschauung gilt, ist
auch im bürgerlichen Leben nur die Monotonie einer despoti¬
schen Reichsverfassung möglich. Im Abendlande dagegen finden
wir, je begabter seine Völker sind, um so mehr einen kräftigen
Widerwillen gegen die Schicksalszahlen der Babylonier, welche
dem Menschen seine heiligsten Rechte verkümmern und ihm die
Freude an der Gegenwart, die frische Thätigkeit im Leben,
in Wissenschaft und Kunst zerstören. Darum haben die griechi¬
schen Dichter, Philosophen und Geschichtschreiber die Idee des
blinden Fatums aus der Menschenwelt zu verdrängen gesucht
und statt seiner im sittlichen Wollen die bewegenden Kräfte
nachgewiesen. Im Sinne hellenischer Lebensweisheit dankt
Horaz den Göttern, daß sie die Zukunft dem Menschen ver¬
hüllt haben; er soll sie nicht ängstlich berechnen, sondern künst¬
lerisch gestalten.

Aber freilich macht Wohnort und Volksthum keinen un¬
bedingten Gegensatz, denn wir sehen, wie die edelsten Stämme
des Abendlandes sich nur in der Zeit ihrer Blüthe jene Unab¬
hängigkeit zu bewahren vermochten. So wie ihre nationale
Kraft erlahmte, büßten sie auch die Freiheit des Verstandes
und des Willens ein, wie dies aller Orten die unausbleibliche
Folge sittlicher Schwäche ist. Daher die Macht der Unfreiheit
auf Erden, die Masse abergläubischer Vorstellungen und Mittel,
welche ein Volk dem andern abgesehen, ein Geschlecht dem
anderen übergeben hat, ein fluchbeladenes Erbe, an dem die
Menschheit schleppt wie an einer Kette, welche sie nicht los
werden kann.

Unter allen Völkern aber, welche auf selbstgewählten Wegen
Gott zu suchen hatten, sind es ohne Zweifel die Hellenen,
welche bei der Unterordnung des Eigenwillens unter äußere
Bestimmungen sich ihre Freiheit am Besten gewahrt und der

Die Unfreiheit der alten Welt.
ſich in das Allgemeine verliert und die Unterſchiede verſchwim¬
men. Dabei kann perſönliche Freiheit, eigene Verantwortlich¬
keit, Maß und Schönheit des ſittlichen Lebens, das in der
Freiheit wurzelt, nicht beſtehen. Die zufällige Geburtsſtunde
entſcheidet über das ganze Menſchenleben und Zahlen herrſchen
ſtatt des freien Willens. Wo ſolche Weltanſchauung gilt, iſt
auch im bürgerlichen Leben nur die Monotonie einer despoti¬
ſchen Reichsverfaſſung möglich. Im Abendlande dagegen finden
wir, je begabter ſeine Völker ſind, um ſo mehr einen kräftigen
Widerwillen gegen die Schickſalszahlen der Babylonier, welche
dem Menſchen ſeine heiligſten Rechte verkümmern und ihm die
Freude an der Gegenwart, die friſche Thätigkeit im Leben,
in Wiſſenſchaft und Kunſt zerſtören. Darum haben die griechi¬
ſchen Dichter, Philoſophen und Geſchichtſchreiber die Idee des
blinden Fatums aus der Menſchenwelt zu verdrängen geſucht
und ſtatt ſeiner im ſittlichen Wollen die bewegenden Kräfte
nachgewieſen. Im Sinne helleniſcher Lebensweisheit dankt
Horaz den Göttern, daß ſie die Zukunft dem Menſchen ver¬
hüllt haben; er ſoll ſie nicht ängſtlich berechnen, ſondern künſt¬
leriſch geſtalten.

Aber freilich macht Wohnort und Volksthum keinen un¬
bedingten Gegenſatz, denn wir ſehen, wie die edelſten Stämme
des Abendlandes ſich nur in der Zeit ihrer Blüthe jene Unab¬
hängigkeit zu bewahren vermochten. So wie ihre nationale
Kraft erlahmte, büßten ſie auch die Freiheit des Verſtandes
und des Willens ein, wie dies aller Orten die unausbleibliche
Folge ſittlicher Schwäche iſt. Daher die Macht der Unfreiheit
auf Erden, die Maſſe abergläubiſcher Vorſtellungen und Mittel,
welche ein Volk dem andern abgeſehen, ein Geſchlecht dem
anderen übergeben hat, ein fluchbeladenes Erbe, an dem die
Menſchheit ſchleppt wie an einer Kette, welche ſie nicht los
werden kann.

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Gott zu ſuchen hatten, ſind es ohne Zweifel die Hellenen,
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[180/0196] Die Unfreiheit der alten Welt. ſich in das Allgemeine verliert und die Unterſchiede verſchwim¬ men. Dabei kann perſönliche Freiheit, eigene Verantwortlich¬ keit, Maß und Schönheit des ſittlichen Lebens, das in der Freiheit wurzelt, nicht beſtehen. Die zufällige Geburtsſtunde entſcheidet über das ganze Menſchenleben und Zahlen herrſchen ſtatt des freien Willens. Wo ſolche Weltanſchauung gilt, iſt auch im bürgerlichen Leben nur die Monotonie einer despoti¬ ſchen Reichsverfaſſung möglich. Im Abendlande dagegen finden wir, je begabter ſeine Völker ſind, um ſo mehr einen kräftigen Widerwillen gegen die Schickſalszahlen der Babylonier, welche dem Menſchen ſeine heiligſten Rechte verkümmern und ihm die Freude an der Gegenwart, die friſche Thätigkeit im Leben, in Wiſſenſchaft und Kunſt zerſtören. Darum haben die griechi¬ ſchen Dichter, Philoſophen und Geſchichtſchreiber die Idee des blinden Fatums aus der Menſchenwelt zu verdrängen geſucht und ſtatt ſeiner im ſittlichen Wollen die bewegenden Kräfte nachgewieſen. Im Sinne helleniſcher Lebensweisheit dankt Horaz den Göttern, daß ſie die Zukunft dem Menſchen ver¬ hüllt haben; er ſoll ſie nicht ängſtlich berechnen, ſondern künſt¬ leriſch geſtalten. Aber freilich macht Wohnort und Volksthum keinen un¬ bedingten Gegenſatz, denn wir ſehen, wie die edelſten Stämme des Abendlandes ſich nur in der Zeit ihrer Blüthe jene Unab¬ hängigkeit zu bewahren vermochten. So wie ihre nationale Kraft erlahmte, büßten ſie auch die Freiheit des Verſtandes und des Willens ein, wie dies aller Orten die unausbleibliche Folge ſittlicher Schwäche iſt. Daher die Macht der Unfreiheit auf Erden, die Maſſe abergläubiſcher Vorſtellungen und Mittel, welche ein Volk dem andern abgeſehen, ein Geſchlecht dem anderen übergeben hat, ein fluchbeladenes Erbe, an dem die Menſchheit ſchleppt wie an einer Kette, welche ſie nicht los werden kann. Unter allen Völkern aber, welche auf ſelbſtgewählten Wegen Gott zu ſuchen hatten, ſind es ohne Zweifel die Hellenen, welche bei der Unterordnung des Eigenwillens unter äußere Beſtimmungen ſich ihre Freiheit am Beſten gewahrt und der

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/196>, abgerufen am 28.11.2024.