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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Unfreiheit der alten Welt.
sich bewegen müsse, wenn bürgerliche Ordnung bestehen solle,
sondern daß es auch für sein sittliches Verhalten Gesetze gebe,
welche nicht ungestraft verletzt werden dürfen. Er ahnt eine
sittliche Lebensordnung, aber wie soll er sie kennen, wie sich
hüten, unbewußt gegen sie zu verstoßen? In der Unruhe sei¬
nes Herzens sucht er nach den ungeschriebenen Gesetzen, nach
dem unsichtbaren Gesetzgeber und seinem Willen. Er hat das
feste Vertrauen, daß die Gottheit, welche diese Unruhe in ihn
gelegt, ihn in seiner Rathlosigkeit nicht verlassen könne, und
je inniger ihm die Gottheit mit der sichtbaren Schöpfung ver¬
wachsen scheint, um so weniger mag er zweifeln, daß sie sich
ihm am Himmel oder auf der Erde bezeuge; daher bedürfe
es nur eines wachsamen Auges und eines ernstlichen Suchens,
um die göttlichen Winke in den natürlichen Erscheinungen zu
entdecken. Dies ist der andere, der religiöse Grund, welcher
die Menschen veranlaßt von äußeren Zeichen ihre freie Selbst¬
bestimmung abhängig zu machen.

Freilich hat derselbe nur bei den Völkern seine Berechti¬
gung, welche, in ihrem Gottesbewußtsein sich selbst überlassen,
auf unsicheren Spuren dem göttlichen Willen nachgehen. Er
gilt nicht für diejenigen, welchen die sittliche Lebensordnung
offenbart ist, welche den sittlichen Gesetzgeber nicht ahnen, son¬
dern kennen und damit zugleich seinen ausgesprochenen Willen.
Hier sollte von keiner Unsicherheit, von keinem Umhertasten
und Umhersuchen die Rede sein, um so weniger, wenn außer
der ursprünglichen Mittheilung des göttlichen Gesetzes im
Laufe der Volksgeschichte noch andere Mittheilungen erfolgen,
um das verdunkelte Gottesbewußtsein wieder aufzuhellen und
die Irrenden auf den rechten Weg zu führen. Doch zeigt
uns gerade das Volk des alten Bundes, wie die menschliche
Natur sich den strengeren Forderungen immer zu entziehen
sucht und, statt aus dem göttlichen Gesetze die richtigen Nor¬
men des Handelns abzuleiten, sich lieber abwendet von dem
Lichte der Wahrheit und in die dunkeln Gänge des Aberglau¬
bens schlüpft, um ohne sittliche Anstrengung auf einem ge¬
wissermaßen mechanischen Wege sich von dem in Kenntniß zu

Die Unfreiheit der alten Welt.
ſich bewegen müſſe, wenn bürgerliche Ordnung beſtehen ſolle,
ſondern daß es auch für ſein ſittliches Verhalten Geſetze gebe,
welche nicht ungeſtraft verletzt werden dürfen. Er ahnt eine
ſittliche Lebensordnung, aber wie ſoll er ſie kennen, wie ſich
hüten, unbewußt gegen ſie zu verſtoßen? In der Unruhe ſei¬
nes Herzens ſucht er nach den ungeſchriebenen Geſetzen, nach
dem unſichtbaren Geſetzgeber und ſeinem Willen. Er hat das
feſte Vertrauen, daß die Gottheit, welche dieſe Unruhe in ihn
gelegt, ihn in ſeiner Rathloſigkeit nicht verlaſſen könne, und
je inniger ihm die Gottheit mit der ſichtbaren Schöpfung ver¬
wachſen ſcheint, um ſo weniger mag er zweifeln, daß ſie ſich
ihm am Himmel oder auf der Erde bezeuge; daher bedürfe
es nur eines wachſamen Auges und eines ernſtlichen Suchens,
um die göttlichen Winke in den natürlichen Erſcheinungen zu
entdecken. Dies iſt der andere, der religiöſe Grund, welcher
die Menſchen veranlaßt von äußeren Zeichen ihre freie Selbſt¬
beſtimmung abhängig zu machen.

Freilich hat derſelbe nur bei den Völkern ſeine Berechti¬
gung, welche, in ihrem Gottesbewußtſein ſich ſelbſt überlaſſen,
auf unſicheren Spuren dem göttlichen Willen nachgehen. Er
gilt nicht für diejenigen, welchen die ſittliche Lebensordnung
offenbart iſt, welche den ſittlichen Geſetzgeber nicht ahnen, ſon¬
dern kennen und damit zugleich ſeinen ausgeſprochenen Willen.
Hier ſollte von keiner Unſicherheit, von keinem Umhertaſten
und Umherſuchen die Rede ſein, um ſo weniger, wenn außer
der urſprünglichen Mittheilung des göttlichen Geſetzes im
Laufe der Volksgeſchichte noch andere Mittheilungen erfolgen,
um das verdunkelte Gottesbewußtſein wieder aufzuhellen und
die Irrenden auf den rechten Weg zu führen. Doch zeigt
uns gerade das Volk des alten Bundes, wie die menſchliche
Natur ſich den ſtrengeren Forderungen immer zu entziehen
ſucht und, ſtatt aus dem göttlichen Geſetze die richtigen Nor¬
men des Handelns abzuleiten, ſich lieber abwendet von dem
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[165/0181] Die Unfreiheit der alten Welt. ſich bewegen müſſe, wenn bürgerliche Ordnung beſtehen ſolle, ſondern daß es auch für ſein ſittliches Verhalten Geſetze gebe, welche nicht ungeſtraft verletzt werden dürfen. Er ahnt eine ſittliche Lebensordnung, aber wie ſoll er ſie kennen, wie ſich hüten, unbewußt gegen ſie zu verſtoßen? In der Unruhe ſei¬ nes Herzens ſucht er nach den ungeſchriebenen Geſetzen, nach dem unſichtbaren Geſetzgeber und ſeinem Willen. Er hat das feſte Vertrauen, daß die Gottheit, welche dieſe Unruhe in ihn gelegt, ihn in ſeiner Rathloſigkeit nicht verlaſſen könne, und je inniger ihm die Gottheit mit der ſichtbaren Schöpfung ver¬ wachſen ſcheint, um ſo weniger mag er zweifeln, daß ſie ſich ihm am Himmel oder auf der Erde bezeuge; daher bedürfe es nur eines wachſamen Auges und eines ernſtlichen Suchens, um die göttlichen Winke in den natürlichen Erſcheinungen zu entdecken. Dies iſt der andere, der religiöſe Grund, welcher die Menſchen veranlaßt von äußeren Zeichen ihre freie Selbſt¬ beſtimmung abhängig zu machen. Freilich hat derſelbe nur bei den Völkern ſeine Berechti¬ gung, welche, in ihrem Gottesbewußtſein ſich ſelbſt überlaſſen, auf unſicheren Spuren dem göttlichen Willen nachgehen. Er gilt nicht für diejenigen, welchen die ſittliche Lebensordnung offenbart iſt, welche den ſittlichen Geſetzgeber nicht ahnen, ſon¬ dern kennen und damit zugleich ſeinen ausgeſprochenen Willen. Hier ſollte von keiner Unſicherheit, von keinem Umhertaſten und Umherſuchen die Rede ſein, um ſo weniger, wenn außer der urſprünglichen Mittheilung des göttlichen Geſetzes im Laufe der Volksgeſchichte noch andere Mittheilungen erfolgen, um das verdunkelte Gottesbewußtſein wieder aufzuhellen und die Irrenden auf den rechten Weg zu führen. Doch zeigt uns gerade das Volk des alten Bundes, wie die menſchliche Natur ſich den ſtrengeren Forderungen immer zu entziehen ſucht und, ſtatt aus dem göttlichen Geſetze die richtigen Nor¬ men des Handelns abzuleiten, ſich lieber abwendet von dem Lichte der Wahrheit und in die dunkeln Gänge des Aberglau¬ bens ſchlüpft, um ohne ſittliche Anſtrengung auf einem ge¬ wiſſermaßen mechaniſchen Wege ſich von dem in Kenntniß zu

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/181>, abgerufen am 18.05.2024.